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Was der Widerstand im Iran will - Südwind Magazin

Wie aus dem Wunsch nach Reformen in Iran ein revolutionärer Prozess entstand.

Die iranische Gesellschaft ist ein großes Paradox. In keinem anderen muslimischen Land des Nahen Ostens begegnen die Menschen den religiösen Vorschriften so nachlässig und progressiv: Frauen prägen das Straßenbild, die meisten Moscheen stehen selbst freitags leer und vorehelicher Sex ist für die junge Generation die Norm. Selbst wenn die Menschen wissen, welche Konsequenzen das haben kann.

Diesen offenen, aufgeklärten Spirit spürt man: Wer als Tourist oder Touristin das Land bereist, wird danach noch lange schwärmen - von der Gastfreundschaft, vom selbstgekelterten Wein und von der persischen Lust an Musik und Tanz.

Zugleich wird kaum ein Land in der gesamten Region so konservativ regiert wie Iran. Die Islamische Republik ist eine rückständige, islamistische Militär-Diktatur, die ihre eigene Bevölkerung täglich mit menschenverachtenden Vorschriften und drakonischen Strafen terrorisiert. Gerade dieses Paradox macht Iran zu einer Art exotischem Freizeitpark für westliche Backpack-Tourist:innen: das riskante Katz-und-Maus-Spiel mit den Sittenwächtern als ultimatives Abenteuer.

Doch für die Iraner:inner selbst ist das Leben in der Islamischen Republik ein nie enden wollendes Trauma. Jeder kennt hier jemanden, der oder die mit Alkohol erwischt wurde und die Narben der Auspeitschung noch immer mit sich herumträgt.

Fast jede Frau wurde einmal von der Sittenpolizei verhaftet, weil ihr Hidschab nicht streng genug saß. Viele wurden verbal und körperlich misshandelt und alle kennen die Angst, der oder die nächste zu sein.

Kulturelle Renaissance. Mit der Revolution 1979 endete im Iran die Monarchie. Das erklärte Ziel des Revolutionsführers Ajatollah Ruhollah Chomeini (1902-1989) war es, ein islamisches Regime einzuführen, um die pluralistische Gesellschaft Irans durch Zwang in eine uniforme islamische Gesellschaft zu verwandeln. Erst wenn dieses Ziel erreicht war, hätte sich - ihm zufolge - das Regime zu einer demokratischen Regierung entwickeln dürfen.

Die strengen Sittenregeln und die Rechtfertigung übelster Verbrechen durch die Religion schafften aber kein Paradies auf Erden. Sie entfremdeten große Teile der iranischen Bevölkerung vom Islam und diese wandten sich angeblich westlichen Werten zu: Trennung zwischen Staat und Religion, Hedonismus, Toleranz.

Die neue breite Protestbewegung, die das Regime in Teheran als kulturelle Invasion bezeichnet, ist vielmehr eine Art kulturelle Renaissance. So berufen sich die Regimegegner:innen im Iran auf die Menschenrechtserklärung des persischen König Kyros oder auf die Ethik des Zoroastrismus: gute Gedanken, gute Worte, gute Taten.

Tanzende und musizierende Frauen waren selbst noch in islamischer Zeit Teil der persischen Tradition und wurden von den berühmten Dichtern Hafez, Rumi und Omar Chayyam besungen. Diese Tradition halten die jungen Iraner:innen dem stoppelbärtigen Puritanismus der Islamisten nun entgegen.

Aktuelle Zahlen zeigen das Ausmaß dieser Säkularisierung - und der wachsenden Kluft, die im Iran die Herrschenden von den Beherrschten trennt: Fast 70 Prozent der iranischen Bevölkerung hielten sich laut einer Umfrage des iranischen Parlaments aus dem Jahr 2018 nicht an die islamische Kleiderordnung. Rund 65 Prozent der Iraner:innen identifizieren sich nicht einmal mehr als Muslim:innen, wie eine Umfrage des in den Niederlanden ansässigen Forschungsinstituts GAMAAN (Group for Analyzing and Measuring Attitudes in Iran) aus dem Jahr 2020 gezeigt hat.


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