Fünf Jahre nach dem größten Chemiewaffenangriff des Syrien-Krieges wurde noch kein Täter zur Verantwortung gezogen. Doch für Frieden im Land ist Aufklärung nötig. Dafür will ein syrischer Jurist in Berlin sorgen.
Abdulsattar Sharaf schreckt aus dem Schlaf hoch - jemand hämmert gegen seine Wohnungstür. Der junge Apotheker schaut verwirrt auf die Uhr: Noch nicht einmal vier. Der 21. August 2013. Vor der Tür steht ein Kollege aus dem Krankenhaus: Er müsse sofort mitkommen, es habe einen Anschlag gegeben. Mit Giftgas, vermuten sie.
Der heute 33-Jährige lebte in Irbin, einem Vorort von Damaskus, in der von Rebellen kontrollierten Region Ghuta. Im unterirdischen Krankenhaus angekommen, sah er Dutzende Leichen auf den Fluren liegen, die meisten von ihnen Kinder. Im Minutentakt wurden neue Verletzte gebracht: Sie röchelten nach Luft, Schaum vor den Mündern, die Augen blutrot. „In so einem Moment denkst du nicht nach. Du handelst einfach."
Sie versuchten, die Menschen mit Wasser und Cola zu waschen, ihnen Sauerstoff zuzuführen, Medikamente zu geben, erzählt Sharaf. Doch die Medizin, die er zur Verfügung hatte, war seit mehreren Jahren abgelaufen. Nachschub gab es in Ghuta, das von den Regierungstruppen belagert wurde, schon lange keinen mehr. 2017 gelang Sharaf die Flucht aus Ghuta, heute lebt er in Heidelberg.
Mehr als tausend Menschen starben in dieser Nacht, es war bislang der Chemiewaffenanschlag mit den meisten Todesopfern des syrischen Kriegs. Fünf Jahre danach wurde noch keiner der Täter zur Rechenschaft gezogen, genauso wenig wie für die zahlreichen anderen Giftgasanschläge in Syrien.
Einem Land, in dem es eigentlich keine Chemiewaffen mehr geben dürfte, denn nach dem Angriff auf Ghuta trat Syrien der Chemiewaffenkonvention bei - doch die Angriffe der vergangenen Jahre zeigen, dass Syrien immer noch über Chemiewaffen verfügt. Beim Versuch, diese Anschläge aufzuklären, sind es wie so oft im Syrien-Konflikt die widerstreitenden Interessen im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN), die eine Lösung verhindern.
Dabei zeigte sich in den vergangenen Jahren: Das Problem war oft weniger die Frage, ob Chemiewaffen eingesetzt wurden oder nicht. Sondern vielmehr, wer sie eingesetzt haben könnte.
Stefan Mogl hat sich mit beiden Fragen beschäftigt. Der Schweizer war Chemiewaffenkontrolleur, heute leitet er den Fachbereich Chemie des Labors Spiez in der Schweiz. Nach dem Angriff auf Ghuta 2013 bekam das Labor von der Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) den Auftrag, anhand von Proben zu untersuchen, ob wirklich ein Giftgas eingesetzt worden war.
Man dürfe sich nicht vorstellen, dass das Nervengas sich am Tatort verflüchtigen und vollständig verschwinden würde, so Mogl. „Abbauprodukte von Nervengiften wie Sarin können direkt am Einschlagskrater theoretisch auch noch Monate später nachgewiesen werden, wenn die Bedingungen vor Ort stimmen", sagt der Chemiewaffenexperte.
Geliefert wurden die Proben nach Spiez mit einem Kurierflugzeug, streng bewacht und versiegelt, darunter zum Beispiel Erde vom Anschlagsort oder Fetzen von Kleidung, die die Menschen während des Angriffs trugen. Schon nach drei Tagen waren sich die Wissenschaftler sicher: Das, was sie in den Proben fanden, war Sarin. Das Nervengift und seine Abbauprodukte könnte man bei entsprechenden Proben mit hundertprozentiger Gewissheit nachweisen, erklärt Mogl.
Der Schweizer gehörte außerdem zum Leitungsgremium der 2015 gegründeten Untersuchungskommission aus Experten der OPCW und der Vereinten Nationen. Der JIM, kurz für „Joint Investigative Mechanism" sollte es endlich möglich machen, die Täter hinter den Giftgasanschlägen in Syrien zu ermitteln. Über Ghuta hatten die UN-Experten nur bestätigt, dass es einen Chemiewaffenangriff gegeben hatte. Nach den Tätern suchten sie nicht, denn dafür hatten sie kein Mandat. Um das künftig zu verhindern, wurde der JIM geschaffen.
Aber auch die Untersuchungskommission musste ihre Arbeit nach etwas mehr als zwei Jahren wieder einstellen. Grund: Der JIM erklärte in einem Untersuchungsbericht, das syrische Regime sei für den Anschlag auf die Stadt Chan Schaichun im April 2017 verantwortlich, bei dem mehr als 80 Menschen starben. Russland bezeichnete den Bericht als voreingenommen. Mit seinem Veto stoppte Russland die Verlängerung des JIM und schaffte ihn damit faktisch ab - eine Entscheidung, die international heftig kritisiert wurde, auch von der deutschen Regierung.
Das mittlerweile zehnte Veto Russlands im Zusammenhang mit dem syrischen Bürgerkrieg sei ein „besonders herber Rückschlag", weil dadurch die Aufklärung der Verantwortlichen der Giftgasanschläge blockiert werde, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert. Es sei wichtig, dass die Straflosigkeit für so schwere Verbrechen des Regimes in Syrien ende. „Das sind wir nicht nur den Opfern schuldig. Das liegt auch im Interesse einer Weltgemeinschaft, die den Einsatz von Chemiewaffen klar ächtet", sagte er.
Zwar gibt es auch eine Untersuchungskommission des UN-Menschenrechtsrats, die Täter benennt: Bis Januar 2018 dokumentierte sie 34 Angriffe und machte für die meisten davon das Assad-Regime verantwortlich. Doch die Kommission hat kein Mandat vom Sicherheitsrat, ihre Zuständigkeit ist also umstritten. Nun ruht die Hoffnung auf der OPCW: In einer Kampfabstimmung Ende Juni 2018 beschlossen die Mitgliedsstaaten der Organisation, ihr ab jetzt das Recht einzuräumen, Verantwortliche zu ermitteln.
Doch selbst wenn klar ein Täter ermittelt wurde, wie zum Beispiel im Fall Chan Schaichun, ist eine Strafverfolgung bisher schwierig. UN-Generalsekretär António Guterres und der UN-Menschenrechtskommissar Seid Raad al-Hussein fordern, die Kriegsverbrechen in Syrien an den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu überweisen. Syrien ist zwar kein Vertragsstaat, aber der Internationale Strafgerichtshof könnte auf Anweisung des Sicherheitsrates aktiv werden.
Doch auch das scheiterte bisher am Veto Russlands, in diesem Fall unterstützt von China. UN-Menschenrechtskommissar Hussein kritisierte den hohen Einfluss der Vetomächte im Sicherheitsrat, gab sich aber zuversichtlich, dass die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen in Syrien sich eines Tages vor Gericht verantworten müssen.
Seine Botschaft: Auch wenn es Jahrzehnte dauern mag - die Opfer werden Gerechtigkeit erfahren. Als Beispiel nennt er den bosnisch-serbischen General Ratko Mladic, der wegen Genozids Ende vergangenen Jahres schließlich verurteilt wurde. Auch Offiziere der argentinischen Militärdiktatur mussten sich vor Gericht wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten, die sie in den 70er- und 80er-Jahren begangen hatten. Hussein sprach in diesem Zusammenhang von den Mühlsteinen der Justiz, die sich zwar langsam drehen, aber dennoch mahlen.
Anwar al-Bunni will aber keine Jahrzehnte warten. Er ist einer der bekanntesten Menschenrechtsanwälte Syriens, wurde für seine Arbeit selbst fünf Jahre vom Regime eingesperrt. 2014 holte ihn das Auswärtige Amt nach Berlin. In seinem Büro in Prenzlauer Berg stapeln sich auf seinem Schreibtisch die Visitenkarten. Er ist ein gefragter Mann, bei Menschenrechtsorganisationen, Hilfesuchenden und der Presse. Denn al-Bunni will für Gerechtigkeit in Syrien sorgen, mithilfe der deutschen Justiz. Er hat beim Generalbundesanwalt Strafanzeige gegen hochrangige Mitglieder des syrischen Geheimdienstes gestellt.
Deutschland ist eines der wenigen Länder, in denen das sogenannte Weltrechtsprinzip gilt: Dadurch können Täter von Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht gestellt werden, auch wenn die Tat weder hier geschehen ist noch Täter oder Opfer deutsche Staatsbürger sind. Theoretisch könnten also syrische Kriegsverbrecher vor deutschen Gerichten verurteilt werden.
Al-Bunni will Assad und die Unterstützer seiner Taten hinter Gitter bringen. Egal für welches ihrer Verbrechen, die Giftgasanschläge seien nur einige von vielen. „Assad und seine Leute sind Kriminelle", sagt al-Bunni und schlägt bei jedem der Wörter mit der Faust auf den Tisch. Das müssten besonders die Staatsoberhäupter verstehen, die über einen Wiederaufbau Syriens mit Assad nachdenken würden, so der Anwalt.
Ohne Aufarbeitung der Kriegsverbrechen könne es keinen Wiederaufbau Syriens geben. „Wenn wir über eine Zukunft Syriens reden wollen, müssen wir zuerst darüber sprechen, die Verantwortlichen der Kriegsverbrechen zur Rechenschaft zu ziehen", sagt Anwar al-Bunni. Niemand, der einen Sinn für Gerechtigkeit habe, könnte jemandem, der sein eigenes Land zerstört habe, Entwicklungshilfe zahlen. Niemand könnte ernsthaft fordern, dass Geflüchtete in ein Land zurückgehen sollen, in dem die Täter, vor deren Verbrechen sie flohen, immer noch auf freiem Fuß sind. „Niemand könnte sich sicher fühlen", sagt Anwar al-Bunni.
Das bestätigt auch der Apotheker Abdulsattar Sharaf. Der Giftgasangriff von Ghuta, so erzählt er heute, habe etwas in den Menschen verändert. Die Belagerung, der Hunger, die Bomben - all das hätten sie ausgehalten. Doch als nach dem Giftgasanschlag nichts passierte, hätten sie verstanden, dass sie allein seien. Und niemand kommen würde, um die Täter zu bestrafen. Vielleicht erleben sie eines Tages das Gegenteil.