Von Thomas Fritz
Luigi - Vollbart, khakifarbenes Hemd - steht vor seinem Hab und Gut in einer alten Lagerhalle an der Westseite des Leipziger Hauptbahnhofs. Zwei Matratzen, Klamotten, ein paar Schlafsäcke. An der Wand baumelt eine Lichterkette, auf einem Regal hat seine Freundin kleine Spielzeugfiguren aufgestellt, um ein wenig Wohnlichkeit zu schaffen. Darunter hängt eine Karte mit dem Schriftzug: "Wir halten zusammen, was auch passiert." Sein improvisiertes Zuhause könnte der gebürtige Hamburger demnächst verlieren. Wie rund 30 weitere Menschen, die "Am Alten Zoll" eine Zuflucht gefunden haben. In den ehemaligen Empfangs- und Abfertigungsgebäuden, Hallen, Lagern und Speichern lebt ein bunt gemischtes Völkchen: Punks, Junkies, Sexarbeiter, Aussteiger und Eingewanderte. Die wenigsten haben sich aus einem stark normierten Leben freiwillig hierher zurückzogen. Die meisten landeten nach Job- und Wohnungsverlust oder durch andere Schicksalsschläge auf der Straße.
In der letzten Zeit haben sich Besuche durch die Behörden hier gehäuft, berichten die Bewohner. Sie ahnen, dass der Investor - die Leipzig 1 GmbH - in den kommenden Monaten sein Hausrecht mit Hilfe der Polizei durchsetzen will. Auf dem attraktiv gelegenen Bauland im Leipziger Zentrum soll auf rund 108.000 Quadratmetern bis 2020 ein neues Stadtquartier entstehen. Wenige hundert Meter nordwestlich, am alten Eutritzscher Freiladebahnhof, sind ebenfalls Wohnungen, Gastronomie und Einzelhandel geplant. Dazu über 330 Kitaplätze und zwei Schulen. Hintergrund ist das rasante Bevölkerungswachstum Leipzigs. 2017 lebten 590.000 Menschen in Sachsens größter Stadt, 2009 waren es gerade 505.000.
Die Schwächsten der Schwachen sind bei solchen Interessenlagen häufig die Verlierer. "Ich weiß nicht, wo ich dann hin soll", sagt Luigi, der seit eineinhalb Jahren am Bahnhof lebt, mit Blick auf die bevorstehende Räumung. Vergleichbare Objekte oder Brachen gibt es in Leipzig kaum noch. "Die Leute hier sind Familie geworden. "Alaska Leipzig", so nennen die Bewohner ihr Zuhause. Das klingt wildromantisch, doch eine starke Frostnacht an diesem Ort könnte den Tod bedeuten. Im Winter benötigte Luigi schon einmal gleich fünf Schlafsäcke, um sich gegen die zweistelligen Minusgrade zu schützen. Trotz der Härten schätzt der Mittdreißiger das, wie er sagt, "selbstbestimmte Straßenleben". Abends Würste auf den Grill zu legen und mit den Leuten in der Couchecke zu sitzen, das sei mit den Bevormundungen und der Enge in einer städtischen Obdachlosenunterkunft nicht vergleichbar.
Ralle nennt seine Mitbewohner scherzhaft "diese ganzen Irren". Der Punk (44) studierte früher Politikwissenschaften und kandidierte für Die Linke erfolglos für den Bayerischen Landtag. Im "Hamsterrad", so nennt er es, eines geregelten Lebens hielt er es irgendwann einfach nicht mehr aus. In Leipzig wurde er schon einmal rausgeschmissen. Mit Tatütata und einem Hubschrauber aus einem besetzten Haus im Stadtteil Plagwitz. Am Bahnhof hat Ralle neue Freunde gefunden.
Kevin ist ebenfalls Punk. Er lebt mit Unterbrechungen seit sechs Jahren am Bahnhof. Weil er mal Rechts- und Staatswissenschaften studierte, kümmert er sich um den Schriftverkehr mit den Behörden. Luigi, Ralle und Kevin gehören zu den Sichtbaren, den quasi Privilegierten unter den hier Obdachsuchenden. Jene Männer und Frauen, die mit psychischen Störungen, Brandwunden oder Leberzirrhosen zu kämpfen haben, diejenigen, die kein Deutsch sprechen, verlassen ihre Unterkunft kaum. Bald werden sie es wahrscheinlich zwangsweise müssen.
Kevin rechnet zwar damit, dass das Verwaltungsgericht Leipzig den Bewohnern vorläufigen Rechtsschutz gewährt. "Obdachlose dürfen in Deutschland nicht einfach so geräumt werden, wenn es keine Alternative für sie gibt", sagt er. Zudem sei eine Räumung durch die Polizei - ohne offiziellen Räumungsbeschluss - gar nicht rechtens. Aber spätestens zum Jahresende würden sie wohl gehen müssen. Und dann? Gespräche mit Vertretern der Stadt und der Oase, einer Tageseinrichtung für wohnungslose Menschen, über Alternativen laufen. Auf normalem Wege eine Wohnung oder ein Zimmer beziehen - das hält Kevin angesichts steigender Mietpreise in Leipzig für aussichtslos. "250 Euro für ein Zimmer kann sich von uns hier doch niemand leisten." Kevin lebt nicht von Hartz IV, sondern schnorrt oder geht Gelegenheitsjobs nach. Das reicht, um auf der Brache über die Runden zu kommen und seinen Rüden Kasper zu versorgen. Aber für draußen?
Ein Modell "Instandhaltungsbesetzung" dürfte nur ein Traum bleiben. Dass die jetzigen Bewohner helfen, die alten Verwaltungsgebäude am Südrand zu erhalten, und dafür geduldet werden. Die Gestrandeten und die neuen Mieter Tür an Tür. Kevin glaubt selbst nicht recht an seine Vision. Bliebe noch ein Neuanfang. In einem anderen leerstehenden Gebäude, auf einer anderen Brache. Die nicht so Mobilen blieben zurück, würden um den Bahnhof herum wild kampieren. Ein Schreckensszenario für die Behörden. In ein paar Jahren werden auf dem Alaska-Gelände moderne Gebäude stehen mit akkurat geschnittenen Hecken davor. Aus Sicht vieler Leipziger eine gute Sache. Für die Bewohner der Brache jedoch ist sie kein Schandfleck, sondern ihr Zuhause.