In der vergangenen Woche schrieb der Soziologe Armin Nassehi einen Essay mit dem Titel "Eine Linke braucht es nicht mehr". Sein Kollege Stephan Lessenich, Professor für Soziologie an der Universität München, widerspricht ihm.
"Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat": So betitelte Frank Schirrmacher im Jahr 2011 seine Abrechnung mit dem politischen Ausverkauf bürgerlicher Werte im Zuge der Finanzkrise. Ein Jahrzehnt "enthemmter Finanzmarktökonomie" habe als veritables "Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik" gewirkt. Schirrmacher folgte dem konservativen britischen Publizisten Charles Moore, der kurz zuvor seine schleichende Selbstdesillusionierung kundgetan hatte: Die Linke habe erkannt, wie sich mächtige politökonomische Akteure des Repertoires bürgerlicher Werte und Semantiken bedient hätten, um einen gigantischen, von jedem Anspruch auf Gemeinwohlorientierung befreiten Bereicherungsfeldzug der Besitzenden zu organisieren.
Der liberale, konservative Schirrmacher äußerte damals ernsthafte "Zweifel an der Rationalität des Ganzen". Doch das war gestern. Heute ist es mit bürgerlichen Selbstzweifeln wieder vorbei, Hamburg und seinen G20-Spielen sei Dank. Sicher, sie waren ganz offensichtlich nicht, wie dies bei Olympiaden ja mittlerweile obligatorisch ist, die besten Spiele aller Zeiten. Doch für den deutschen Liberalkonservatismus - zumal in seiner sozialdemokratischen Variante - war "Hamburg" zweifelsohne ein Erfolg. Wenige Jahre nach der Glaubenskrise bürgerlicher Intellektueller, nur ein halbes Jahrzehnt einer kaum minder enthemmten Finanzmarktökonomie später scheint die ideologische Ordnung wieder hergestellt zu sein: Linke gelten nun als "geradezu militärisch operierende Gewalttäter" (Olaf Scholz), als "asoziale Schwerstkriminelle" (Heiko Maas), als "überhaupt nicht von Neonazis und deren Brandanschlägen zu unterscheiden" (Sigmar Gabriel). Und wer in der linken Szene nicht eigenhändig mit gezündelt hat, gehört wenigstens zu den im Politsprech immer beliebten "geistigen Brandstiftern".
So weit, so bürgerkriegslogisch. Doch die jüngste Restauration bürgerlicher Gewissheiten geht noch weiter, und sie geht tiefer. Während die real existierende Sozialdemokratie immerhin nur die Molotow-Fraktion des linken Protests aus der Gemeinschaft politischer Satisfaktionsfähigkeit ausschloss, erklärt der Münchner Soziologenkollege Armin Nassehi in einem Beitrag auf ZEIT ONLINE die Hamburger Linksradikalen aller Länder zusammen mit der Linken als solche zu den erledigten Fällen. "Die Linke braucht es nicht mehr": Ein starkes Stück Gesellschaftsanalyse. Ein starkes Stück Analyse von einem anerkannten und vielbeachteten Beobachter gesellschaftlicher Komplexität, das seinerseits allerdings bemerkenswert komplexitätsreduzierend operiert. Durchaus eindrucksvoll zeigt Nassehis Beitrag, wie man aus der Not der Selbstdesillusionierung bürgerlichen Denkens eine Tugend macht - indem man nämlich die gesellschaftspolitische Illusionslosigkeit zum Programm erklärt.
Fanatismus der BesserwissendenFür Nassehi, der linkem Denken eine entwaffnende Vereinfachung der Verhältnisse attestiert, sind letztlich alle Linken gleich. Zwar konzediert er der Linken in ihrem um einen universalistischen Egalitarismus bemühten Gutmenschentum, einen gewissen Sympathievorsprung gegenüber der Rechten. Letztlich seien Linke aber vor allen Dingen naiv: gefangen in einem kindlichen Glauben an das Steuerbare in der Welt. Und da wiederum kippt der politisch-ideologische Entwicklungsrückstand der Linken ganz schnell ins Unsympathische. Denn hinter ihren unreifen Steuerungsfantasien stecke ein autoritärer Geist, ein Hang zur Bevormundung der Leute, der wohlmeinend-disziplinierende Fanatismus der Besserwissenden.
Links sein, so lässt sich Nassehis Analyse auf den Punkt bringen, komme einem einzigen hilflosen Aufschrei gegen die Komplexität der Verhältnisse gleich, "gegen eine Welt, die sich dem Zugriff von Entscheidungen entzieht". Diese schlichte Tatsache einer politisch unverfügbaren gesellschaftlichen Komplexität könnten oder wollten Linke nicht gelten lassen. Und hingen stattdessen dem realitätsverweigernden Irrglauben an, dass man komplexe Verhältnisse "einfach durch normative Forderungen einfangen" könne: Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt. Dieser Voluntarismus des Machbaren schlage notwendig in Autoritarismus um, weil man entsprechend weltverändernde Vorstellungen politisch "eben doch durchsetzen muss".
Während man noch überlegt, ob in diesem Sinne dann alles Handeln mit politischem Durchsetzungsanspruch notwendig autoritären Charakter tragen müsse, wird der um Komplexitätsbewältigungskompetenz bemühte Leser auch schon wieder aus diesem verstörenden Gedanken gerissen - durch die überraschende Zuschreibung, die Linke habe "wenig Sensibilität für die widerstreitenden Kräfte einer Gesellschaft".
Die Linke? Keinen Sinn für widerstreitende Kräfte? Ist hier tatsächlich von jener politischen Kraft die Rede, die sich in der Geschichte der Moderne für die Austragung des sozialen Klassenkonflikts zuständig sah? Vermutlich stehen die "widerstreitenden Kräfte" bei Nassehi aber bloß als ein Synonym für "Komplexität". Für ein gesellschaftliches Verhältnis also, unter dem man sich erst einmal - in den Sozialwissenschaften spricht man an dieser Stelle gerne von leeren Signifikanten - alles und nichts vorstellen kann. Gegenüber dem sich "die" Linke aber doch in der "subalternen Fantasie" einer perfekten Regierbarkeit und Regulierbarkeit der Welt eingerichtet haben soll.
Was soll man sagen: Wer die real existierende politische und kulturelle Linke auch nur ansatzweise aus der Nähe kennt, reibt sich verwundert die Augen. Die gegenwärtige Linke, auf einmal vereint im Glauben an das steuernde Zentrum, den großen Plan, den direktiven Eingriff? Die in Hamburg in all ihrer Vielfalt - und Widersprüchlichkeit - sichtbar gewordene Bewegungslinke: eine Ansammlung verwirrter Wiedergänger von Günter Mittag, eine skurrile Zombieveranstaltung unverbesserlicher Adepten von Kommandowirtschaft, ein Haufen Sozialingenieure? Wo doch linke Akteure und Aktivitäten, Narrative und Theorien, Ziele und Strategien so unendlich divers sind, dass man seit Jahrzehnten an den in diesem Milieu immer wieder lustvoll inszenierten Grabenkämpfen und Spaltungstendenzen schier verzweifeln mag. Und auf der Linken selbst die immer unübersichtlicher wuchernden, teils kritisch aufeinander bezogenen, teils einander souverän ignorierenden Theorie- und Konzeptdebatten eigentlich von niemandem mehr intellektuell zu durchdringen sind.