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Das Überraschungspaket

Das Unternehmen Amazon verfolgt unterschiedliche Geschäftsmodelle: Handel, Dienstleistungen, Medienunternehmen, Gerätehersteller

Überraschend unterschiedliche Nachrichten: Im März etwa kaufte Amazon für 775 Millionen US-Dollar Kiva Systems, einen Hersteller von Robotern für die Lagerhaltung; sie sollen die Prozesse in den 55 Logistikzentren beschleunigen, die der Internet-Händler aus Seattle weltweit betreibt oder gerade plant. Darüber hinaus probiert Amazon Abholstationen aus und stellt in Städten wie Seattle, New York und London gelbe Schränke auf, aus denen Kunden ihre Bestellungen fischen.

Als wäre das nicht schon genug, präsentierte Amazon im Juli sein Game Studio und dessen erstes Social Game „Living Classics": Inhalt auch für die Geräteserie Kindle Fire, deren System das Unternehmen für App-Entwickler öffnete und von dem gerade vier neue Modelle erscheinen. Amazon produziert Videos, verlegt E-Books - und will offensichtlich eine Medienwelt à la Apple etablieren.

Amazon überrascht: In den 18 Jahren seit der Gründung hat Gründer Jeff Bezos das Kerngeschäft - den Buchhandel im Internet - auch durch gezielte Zukäufe stets ergänzt, erneuert und zusätzliche Einnahmequellen erschlossen. Als Online-Händler, Betreiber eines Marktplatzes, Anbieter von Web-, Logistik- und Bezahlservices, Elektronikhersteller und Content-Produzent setzte Amazon 2012 rund 48 Milliarden US-Dollar um und beschäftigt heute rund 66.000 Menschen. „Amazon - das sind im Grunde vier, fünf Unternehmen", sagt Jochen Krisch, Geschäftsführer der Beratung Exciting Future. „Spannend ist, dass es sich um verschiedene Wetten auf Erträge handelt."

In erster Linie, schreibt Sucharita Mulpuru, Analystin und Geschäftsführerin der US-Marktforschung Forrester, in ihrer Studie „Why Amazon Matters Now More Than Ever" (http://bit. ly/TYDAtf) definiere sich Amazon jedoch als Technologieanbieter: „So bezeichnet es Unternehmen wie Apple, Google oder Microsoft als Wettbewerber" - und gerade nicht Konzerne wie Wal-Mart, Otto oder Tesco.

Doch mit dem Kindle und der Produktion von Inhalten steht Amazon nun vor einer Wende: Kann der Konzern sein Handels-und Servicegeschäft ausbauen und parallel ein konkurrenzfähiges Elektronikangebot etablieren? „Amazon investiert zurzeit viel Geld in den Kindle und in elektronischen Inhalt", erläutert Hagen Sexauer, Principal bei der Beratung Sempora. „Aber im Gegensatz zu Konkurrent Apple verfügt das Unternehmen über kein proprietäres System. Ein solches zu entwickeln, ist ein Riesending und erfordert hohe Investitionen - das Ende ist ungewiss." Für seine Elektronik-Vision will Amazon vorerst weder mit Google noch Apple und Co. kooperieren, um sich auf die Produktion und den Vertrieb von Inhalten beschränken zu können.

Auch bei dieser waghalsigen Mission werden die Aktionäre wohl mitziehen und es zulassen, dass Bezos wie immer unterschiedlichste Strategien verfolgt, aber die Ziele und Perspektiven öffentlich nicht erklärt. Sie meutern selbst dann nicht, wenn wie 2011 aufgrund hoher Investitionen der Ertrag im Vergleich zum Vorjahr um fast 45 Prozent auf 631 Millionen Dollar oder im zweiten Quartal 2012 gar um 96 Prozent auf sieben Millionen Dollar schrumpft. „Amazon ist nicht auf Ertrag fixiert, sondern achtet auf freien Cashflow", so Mulpuru. Investitionen trägt Amazon aus laufendem Geschäft. Rücklagen werden nur soweit nötig gebildet, Gewinne nie an Aktionäre ausgeschüttet.

Ob es Amazon allerdings gelingt, den geforderten Aufwand zu stemmen, um sich technologisch in die Liga von Google und Apple zu hieven, ist fraglich. „Verbraucher werden nur zu Geräten von Amazon wechseln, wenn das Unternehmen ihnen Fortschritt und technologische Führung bietet", so Sexauer. „Ob Kunden also die Neupositionierung vom Händler zum Elektronik- und Content- -Anbieter mitmachen, bleibt ungewiss." Im Sortiment eigener Elektronik fehlt überdies noch das Smartphone, mit dem junge Leute digitale Inhalte abrufen - und zunehmend auch einkaufen.

Im Online-Handel hat Amazon allerdings bewiesen, dass Erfolg oft nicht aus einem Vorsprung in Technik oder Service resultiert, sondern aus Hartnäckigkeit. „Das Unternehmen hat aus dem Kerngeschäft immer neue Geschäfte entwickelt und ausprobiert", beobachtet Krisch. „Klappte eine Strategie nicht auf den ersten Satz, ging Amazon das Ganze noch mal von vorne an"; Beispiel Mode, Accessoires und Schmuck: Seit etwa 2000 versucht Amazon in diesen Segmenten Fuß zu fassen, bis 2008 mit nur mäßigem Erfolg. Danach wurde zugekauft: 2009 etwa der Schuhladen Zappos, der das Vorbild für Zalando abgab, 2010 der Shopping Club Buyvip. Zappos und Buyvip arbeiten zwar eigenständig weiter, im Amazon- Paket aber entstanden Handelsmarken wie Javari für Schuhe und Taschen sowie Myhabit für Design-Schnäppchen: „Amazon kauft nicht immer zu, um den Umsatz zu steigern", bestätigt Mulpuru. „Durch Zukäufe verbessert das Unternehmen eigene Technik oder - wie gerade bei Kiva Systems - eigene Prozesse und sichert sich Wissen, Erfahrungen oder Talente."

So entwickelte sich Amazon zum Tempomacher des Online-Handels. Laut Forrester erwirtschaftet Amazon in den USA rund 20 Prozent des E-Commerce-Volumens. Durch das Marktplatz-und Serviceangebot ist das Unternehmen zudem an etwa jeder fünften Kauftransaktion auf einer fremden Site indirekt beteiligt und erzielt durch Provisionen mittlerweile einen Umsatz von immerhin mehr als vier Milliarden Dollar im Jahr. Durch solche Nebengeschäfte zahlen sich aber auch die teuren Anschaffungen im Bereich Server, Web- und Mobile-Technik aus. Sie werden daher gezielt forciert: Auch die US-Kaufhauskette Saks wird Kiva-Roboter in ihrem neuen Lager einsetzen. Und angeblich intensiviert Amazon gerade sein Werbegeschäft, baue dazu die Präsenz in der Metropole der Kreativen, New York, aus. So ließen sich die 80 Millionen Menschen, die Amazon täglich besuchen, zu Geld machen.

„In spätestens fünf bis zehn Jahren wird Amazon stationäre Filialen, Showrooms oder Abholpunkte betreiben", ist sich Berater Krisch sicher. „Große Teile des Handels werden in der Konkurrenz mit dem Internet nicht mithalten können und wegbrechen." Online-Händler müssen dann Plätze einrichten, an denen Verbraucher Waren erleben. So gesehen geben die gelben Abholstationen nur einen Vorgeschmack auf die Zukunft des Handels.

So reibungslos wie früher kann sich Amazon nicht mehr in der Handelswelt ausbreiten. Der Widerstand wächst. Marken wie Adidas sperren sich gegen den Verkauf ihrer Produkte auf Marktplätzen, weil nur der Preis zählt. Händler fürchten, dass Amazon als Dienstleister und Vertriebskanal wertvolles Wissen über das Kaufverhalten aufsaugt und sich zudem Kundendaten aneignet. „Kooperieren Sie vorsichtig mit Amazon als Vertriebskanal und Partner", rät Analystin Mulpuru. Weitere Partner, gute Beziehungen zu Herstellern und selbstständige Verkaufsstrategien helfen, die Abhängigkeit von Amazon zu mindern. Zuschauen bleibt weiterhin Pflicht: Amazon verfolgt bemerkenswerte Wachstumsstrategien - und ist immer wieder eine Überraschung wert. vs ❚

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