Susanne Karr

freie Kulturredakteurin, Wien/München

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Artikel

Die Sinnlichkeit des Wissens

© Yoshihiro Koitani

In der Vielfalt der Bibliotheksgestaltung schwingt eine scheinbar ewige Faszination mit: Übereinstimmung herrscht bezüglich der Wertschätzung von Wissen. Egal ob es sich um private Sammlungen mit Raritäten handelt oder um öffentlich zugängliche Bildungszentren, als die sich die heutigen Bibliotheken oft präsentieren. Die Bibliothek als Medium, als Trägerin und Verwalterin von Wissen, kann ganz unterschiedliche Formen und Größen haben - sie ist eine hochgeachtete Institution. Grenzen zwischen Fachbereichen, Sprachen und Herkünften verschwimmen in den aktuellen Bibliothekskonzeptionen bewusst. Es scheint weitgehend Konsens darüber zu herrschen, dass die Zusammenführung von Wissensbereichen einer Gesellschaft besser dient als gralshüterisches Spezialistentum.


Die Weisheit baut sich ein Haus

Das Architekturmuseum München ( www.architekturmuseum.de) widmet der Bibliothek derzeit die sehenswerte Ausstellung „Die Weisheit baut sich ein Haus". Gleich zu Beginn wird dem Büchersammeln als Tätigkeit und Passion nachgegangen. Dabei werden - für Bibliomanen - wahrhaftige Schätze gezeigt: Werner Oechslins Privatbibliothek umfasst eine unerhört wertvolle Sammlung. Dazu gehören Schriften aus dem 16. und 17. Jahrhundert mit Aufzeichnungen zu Ordnungssystemen, die ganz wesentlich für den Aufbau einer Bibliothek sind. Denn eine Ansammlung von Büchern ist noch keine Bibliothek. Wenn man keinen Plan über den Ort der Information hat, kann man nicht auf sie zugreifen. Jedenfalls nicht gezielt. Und die strategische Anordnung von Wissen gilt als die hehre Aufgabe der Bibliothek. Diese Thematik begleitet die Bibliothek naturgemäß von Anfang an und sie spiegelt in ihrer Variationsbreite auch den individuellen Versuch, mit Informationen sinnvoll umzugehen, wider.


Architektonik ist die Kunst der ­Systeme, sagte schon Kant

Nach welchen Systemen die Ordnung angelegt wird, weist auf unterschiedliche Bibliothekssysteme hin. Bereits in Mesopotamien und Ägypten gab es Versuche, Wissen zu sammeln. Im alten China wurden wichtige Texte in Steinstelen graviert. Erinnerung ist hier ein Schlüsselwort. Erinnerung ist die Grundlage des Wissens. Daher ist es nur logisch, dass auf deren Kultivierung höchster Wert gelegt wird. Es wäre überaus reizvoll, das ausgestellte Büchlein „The Art of Memory" aus der Vitrine herauszunehmen und durchzusehen. Es ist 1699 in London erschienen und verspricht großen Nutzen: „A Treatise usefull for All, especially Those who are to Speak in Public."

Erinnerung kann sich sowohl auf eine direkte Information beziehen als auch auf den Ort der Information; nämlich wo man diese nötigenfalls beziehen kann. Diese Frage stellt sich kontinuierlich. Egal ob Bibliothekskataloge in Schubladen und in minutiös kalligrafisch geschulter Handschrift vorhanden sind oder ob via Internet im von überall abrufbaren Online-Katalog gesucht wird: Ohne ein grundlegendes Wissen, wonach überhaupt gesucht werden soll, lässt sich nichts erforschen. Die altmodische Beschlagwortung ist im Prinzip eine Verwandte des „tags". Womit nicht gesagt werden soll, dass die Suche selbst sich heute nicht anders und weitläufiger gestaltet als früher. Allein der Grundgestus ist derselbe.


Erst geordnete Informationen ­können zu Wissen werden

Wie nun die einzelnen Wissens- und Wissenschaftsbereiche zueinander geordnet und in Beziehung gesetzt werden, ist durchaus nicht unumstritten. Es gibt unterschiedliche Modelle. So stellte sich beispielsweise in den Klosterbibliotheken immer wieder die Frage, ob die antiken Philosophen etwa neben sogenannten kanonischen Werken stehen durften oder ob sie überhaupt zugänglich sein durften. Umberto Eco führt in seinen Roman „Der Name der Rose" diese Debatte als kriminalisierendes Element ein. Eine als gefährlich erachtete und deswegen verbotene Aristoteles-Schrift stellt letztlich das Motiv für zahlreiche Morde dar. In diesem Plot ist eine Fülle von zentralen Themen der Bibliothek enthalten: das Wissen, die Hierarchie, der Zugang; die Entscheidung, was mitgeteilt und überliefert werden soll.

Ein weiterer Aspekt der Bibliothek ist ihre geheimnisvolle Schönheit, die Magie von Bücheransammlungen, die sich auch im Gebäude äußert. Hierzu gibt es unterschiedlichste Ausformungen. In den Modellen in der Münchner Ausstellung sind einige davon zu bewundern: etwa die Florentiner Michelangelo-Bibliothek „Laurenziana", ein 1560 fertiggestellter Saalbau. Oder der Zentralbau in Wolfenbüttel von 1715, der sich auf den kreisförmigen Lesesaal konzentriert, der außen quadratisch von Büchermagazinen umgeben ist. Oder die Halle des Lesesaals der Bibliothèque Sainte Genevieve von Henri Labrouste in Paris mit ihrer sichtbaren Eisenkonstruktion.

Zeitgenössische Beispiele definieren meist eigene, freie Formen: etwa das Rolex Learning Center, der Ecole Polytechnique Lau­sanne des Architekturbüros Sanaa, das innovatives Lernen und Wissenstransfer zum Ziel hat und dies auch in seiner fließenden Formensprache vermittelt. Auch Toyo Ito interpretiert sein Wissensreservoir in Sendai als offen und durchscheinend und nennt es, in Erweiterung des buchzentrierten Wissens, „Mediathek". Sie will einen freien Austausch der Informationen fördern. Allein aufgrund der Materialität - Dach und Wände bestehen aus Glas - schafft sie eine unmittelbare Verbindung zur Außenwelt. Während des Erdbebens in diesem Frühjahr bot die Mediathek ihren Besuchern Schutz.

Sie hielt dem Beben dank ihrer speziellen, ausgefeilten Bauweise stand. Dieses Ereignis, Glück im Unglück, mag der Mediathek zusätzliche Symbolkraft verleihen. Ähnlich in Offenheit und Durchsichtigkeit der Konstruktion präsentiert sich die erst jüngst eröffnete Biblioteca Pública in Mexiko-Stadt. Durch die streng geometrische Linienführung entsteht allerdings ein völlig anderer Eindruck. Wo Toyo Ito von den weichen Formen geschwungener Bäume als Vorbild für seine tragende Säulenkonstruktion ausgeht, ist im Projekt von Taller de Arquitectura X / Alberto Kalach hinter der Transparenz eine gepflasterte geradlinige Netzstruktur erkennbar.

Ein völlig anderes Konzept präsentiert die neue Zentralbibliothek der Berliner Humboldt-Universität, das Jakob-und-Wilhelm Grimm-Zentrum von Max Dudler. Von außen lässt das helle, feingliedrige Gebäude eine Bibliothek nach Spielart des abgeschlossenen konzentrierten Studienraumes vermuten. Der Innenraum allerdings balanciert zwischen Offenheit und Geschlossenheit.

Der großzügige Lesesaal lässt an Etienne-Louis Boullées Pläne für eine königliche Bibliothek denken. Lesepulte sind auf verschiedenen Ebenen verteilt und scheinen Ordnungssysteme abzubilden. Unspektakulär muten dagegen die Pläne für die neue Bibliothek der Wirtschaftsuniversität Wien von Zaha Hadid an - eher eckige als fließende Formen erinnern an ihr Maxxi Museum in Rom. Immer wieder taucht in Bibliotheksprojekten der vermessene Anspruch auf, das gesamte Wissen der Welt zu versammeln - nicht nur bei Etienne-Louis Boullée und seiner „Bibliothèque du Roi". Auch das von Le Corbusier geplante „Mundaneum" in Genf und das Lenin-Institut „Leonidov" sind Abkömmlinge dieser Idee. Angeblich war auch im antiken Alexandria genau dieses Ansinnen Auslöser für die sagenhafte Bibliothek.


Alexandria, das Urbild der Bibliothek

Die Urszene der Bibliothek, aber auch ihrer Gegner, spielt in Alexandria. Die im dritten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gegründete Bibliothek des Ptolemäus I. wurde gewaltsam zerstört und brannte ab. Im Lauf der Geschichte folgen immer wieder großangelegte und inszenierte Bücherverbrennungen. Unglaublich viel Wissen ist auf diese Weise immer wieder verlorengegangen. Der Mythos von Alexandria wird gerade durch das Fehlen eines präzisen Bildes in Gang gesetzt. Unermesslich groß muss die Bibliothek gewesen sein, unendlich kostbar die Papyrusrollen, Karten und Handschriften, die sie beherbergte. Und so lässt sich endlos weiter spekulieren, welche Geheimnisse uns zur Verfügung stünden, gäbe es die wertvollen Papyri noch: vielleicht etwa Baupläne der Pyramiden.

Das Faszinierende an dieser Bibliothek war neben ihrem Universalanspruch der freie Zugang. Für alle sollten die Schriften erreichbar werden.

Nach dem Vorbild der athenischen Philosophenschulen aufgebaut, gehörte sie zum „Museion", einem Ort, der Forschung und Musenverehrung gleichermaßen gewidmet war. Wo sie sich tatsächlich befunden hat, ist nicht sicher. Ruinenteile sollen sich am Hafen befunden haben, aber der Beweis ist von archäologischer Seite her nicht gesichert. Jedenfalls aber wurde im Hafenviertel die neue Bibliothek geplant und errichtet: 2002 wurde das beeindruckende Rundgebäude, ein schräg angeschnittenes Zylindersegment der Architekten Snohetta und Hamsa Associates, feierlich eröffnet. Sie steht für die Idee der Bibliothek an sich: ein Archiv des Wissens und ein Ort des Forschens, aber auch der Begegnung zu sein.


La vaste amphithéâtre de livres

An der Architektur einer Bibliothek lässt sich also auch ablesen, wie sie ihre Funktion in der Gesellschaft ausübt: ob als Bildungs- und Unterhaltungsort für eine große Öffentlichkeit wie Stadt-, und Nationalbibliotheken oder für eine geschlossene Gruppe. Seien es Spezialbibliotheken einzelner wissenschaftlicher Fachbereiche oder, wie früher, die einer zensurierten Auswahl unterworfenen Kloster- und Stiftsbibliotheken. Auch im Zeitalter der digitalisierten Information ist die Bibliothek ein gefragter Ort. Die Leseplätze in der Nationalbibliothek in Wien etwa sind fast immer voll besetzt, und auch in der Münchner Ausstellung wird darauf hingewiesen, dass die Bibliothek lebendig ist wie kaum je zuvor. Der tatsächliche, reale Raum, in dem Wissen versammelt ist, scheint also trotz der Stärke der virtuellen Informationsspeicher nicht verzichtbar. Im Gegenteil, der Atmosphäre des gemeinsamen Arbeitens und Forschens, sei es auch an völlig unterschiedlichen Themen, haftet etwas eindringlich Inspirierendes an. Kaum je kann man so konzentriert lesen wie in der Bibliothek.


Die Ausstellung „Die Weisheit baut sich ein Haus" ist in der ­Pinakothek der Moderne in München bis 16. Oktober zu besichtigen. Es werden historische und moderne Bauten gezeigt und verglichen und utopische Projekte vorgestellt. Am 12. ­Oktober um 18 Uhr hält Werner Oechslin einen Vortrag mit dem Titel „On a purvu aux besoins de l'âme et du corps": die Bibliothek, ein Leib-Seele-Problem. Zur Ausstellung ist bei Prestel ein Katalog mit reichlich Bild- und Textmaterial erschienen.

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