Susanne Karr

freie Kulturredakteurin, Wien/München

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Artikel

Nester, Höhlen, Wolkenkratzer

Rekonstruktion eines Wikinger-­Langhauses im Freilandmuseum ­Trelleborg (Slagelse)

Mit dem Spruch „My home is my castle“ ist vieles gesagt: Wohnung ist ein privater, geschützter Ort, an dem man sich wohlfühlt. Bei allen individuellen und historischen Varianten bleibt immer der Aspekt der Geborgenheit und einer Möglichkeit des Rückzugs wichtig. Diese Forderungen treffen auf Höhle wie Nest gleichermaßen zu.


Webervögel sind exzellente Baumeister: Dass das Wohnen kein distinktives Merkmal menschlicher Kultur ist, wird beim Anblick des perfekt gebauten Nests sofort klar. Mit faszinierender Präzision und detailreicher Kenntnis statischer Zusammenhänge wird da ein Zuhause geschaffen, das genau in die Gegebenheiten der Umgebung passt. Vorbildlich sozusagen. Und Vorbild waren sicherlich die zahlreichen konstruierten Behausungen verschiedenster Tiere auch bei der Entwicklung des Wohnbaus. So mutmaßt der römische Architekturhistoriker Vitruv in den ältesten bekannten Aufzeichnungen zum Thema, dass es im Zuge des Zusammenschlusses mehrerer Menschen in Gruppen zu unterschiedlichen Entwicklungen kam: „Da begannen in dieser Gemeinschaft die einen Dächer aus Laub zu bauen, andere, am Fuß der Berge, Höhlen zu graben, einige stellten – die Nester der Schwalben und ihre Konstruktionen imitierend – Örtlichkeiten aus Lehm und Reisig her, in denen sie Unterschlupf fanden.“ („Zehn Bücher über Architektur“, 2. Buch, 1. Kapitel: Vom Ursprung der Gebäude)


Interdisziplinär und kokreativ
Bis heute – und in Zukunft noch verstärkt  – spielt der Schutz vor dem Klima eine entscheidende Rolle. Bereits in der Steinzeit wohnen Menschen nicht direkt im Freien. Das Wohnen hat neben Fragen des Komforts existenzielle Bedeutung, gerade wenn das Klima rau ist oder die nächtlichen Raubtiere zahlreich sind oder beides gleich­zeitig.

Die Frage, wie dieser Ort genau aus­sehen soll, lässt sich sehr vielfältig beantworten. Sobald arbeitsteilige Strukturen Gesellschaften zu durchdringen beginnen, kann eine Spezifizierung der Baukunst angenommen werden – nicht mehr jede Familie oder Gruppe baut ihr eigenes Domizil. Es werden Spezialisten für diese Aufgabe ernannt, die in der Folge hohe Kunstfertigkeit erlangen. Schon bei Vitruv wird vom Architekten außer handwerk­lichem Können (Fabrica) und konzeptionellem Arbeiten umfangreiches Wissen über Kultur gefordert – so hilft etwa die Kenntnis von Musik dem Harmonieempfinden und dem Gefühl für Proportionen. Auch Kenntnisse in Gesetzeskunde und Geschichte, Philosophie und Gebräuche sind notwendig – eine inter­disziplinäre Sicht der Architektur.

Vitruvs „Zehn Bücher“, verfasst zu Zeiten des Kaiser Augustus, gehören zu den viel diskutierten Schriften zur Architektur. Entgegen früheren Vorstellungen von einer marmorschimmernden, mit Ornamenten geschmückten Stadt befindet sich Vitruv in einer Großstadt der Mietskasernen und Slums. Ziegelbau überwiegt die teuren Marmorkonstruktionen, die Bauwirtschaft ist korrupt, das erstrebenswerte architektonische Können, das im Tempelbau steckt, liegt oft in den Händen griechischer Sklaven – wer es sich leisten kann, beschäftigt so einen Kulturbotschafter wider Willen. In dieser Zeit fasst Vitruv seine Überlegungen und Erkenntnisse in zehn Schriftrollen zusammen, die im Fortgang der Geschichte der Baukunst hohen Einfluss gewinnen. Im Prinzip nimmt die gesamte Architekturtheorie von Renaissance bis Klassizismus bei ihm Anleihen oder setzt sich mit seinen Schriften auseinander.


Nordfront der wieder aufgebauten Stadtvilla (Villa Urbana) in Carnuntum
© CC-BY 2.5_MatthiasKabel

Architektur als urbanistische Intervention
Denn in der Renaissance bezieht man sich wieder auf eine idealisierte Antike voller in Stein gemeißelter Kunst und idealer Proportionen. Die Baumeister studieren und vermessen römische und griechische Tempelruinen und Gemäuer. Leon Battista Alberti studiert Vitruvs Schriften, begründet die architektonische Perspektivzeichnung. Diese wiederum beeinflusst Malerei wie Architektur – hat aber auch prominente Gegner wie Raffael oder Palladio: Letzterer findet, in der Perspektive entstehe eine Verzerrung, die der Optik schade.

Palladio gilt immer noch als einer der einflussreichsten Architekten überhaupt. Seine Betrachtung von Architektur als sozialer Katalysator beinhaltet urbanistisches Wissen, das bis heute inspiriert. Ebenso sein Konzept, das Haus als eine kleine Stadt zu betrachten und die Stadt wiederum als ein großes Haus. Es geht ihm um das Studium der Dynamiken, die sich im lebendigen Ablauf eines Tages mit seinen Geschäften, sozialen Zusammenkünften und individuellem Rückzug abspielen, und den Versuch, diese Abläufe in Räumlichkeiten zu fassen.

Diese Idee verfolgt ja letztlich auch Le Corbusier in seiner Wohnmaschine, kommt allerdings zu einer gänzlich anderen ästhetischen Umsetzung. Seine Bevorzugung des rein Funktionalen zeigt sich in seinen Entwürfen, kombiniert auch mit einem gänzlich anderen Verständnis von Proportionen. Kann diese andere Auffassung, abgesehen von Stil­fragen, rein mit der Größe der Stadt und der Anzahl der Bewohner erklärt werden?


Urbane Varianten und die Sehnsucht nach Privatheit
Es gibt so viele Stile von Häusern wie Menschen selbst, ließe sich mit Frank Lloyd Wright sagen. Allein der Standort gibt Anlass zu Debatten – viele Menschen wollen heutzutage mitten im urbanen Leben an­gesiedelt sein, wo sie wichtige Ressourcen wie Kommunikation, Inspiration und Gesellschaft vermuten. Andere leben immer noch gerne an den Rändern von größeren Ansiedlungen, schätzen ihre dadurch (vermeintlich) gewährleistete Privatheit und Nähe zu natürlicher Umgebung. Der Drang in die Städte, der wieder tendenziell zunimmt, folgt heute wie früher der Ansicht, Stadtluft mache frei. Aktualisiert könnte man sagen, die Möglichkeiten für flexibel und mobil eingestellte Menschen stellen sich in der Stadt einfacher dar. Die Gestaltungsmöglichkeiten für Lifestyle werden in diesem Konzept teilweise quasi in den öffent­lichen Raum verlegt, wohingegen das Leben am Stadtrand oder gar auf dem Land viele Interessen in den Privatraum integriert. Aber vielleicht spiegeln diese beiden Extremvarianten auch grundsätz­liche Unterschiede der Auffassung vom guten Leben, das immer auch die Frage nach dem Wohnen mit einschließt. Wie groß soll eine Wohnung sein? Soll es ein Haus sein? Wenn ja, einzelstehend? Für mehrere Parteien? Generationenübergreifend? Vorgänger dieser unterschiedlichen Wohnmodelle finden sich tatsächlich bereits in den Varianten des neolithischen Langhauses: entweder mit einer Groß­familie bestückt, oder, in Vorgriff auf das Konzept des Reihenhauses, mit mehreren Großfamilien. Oft wohnen auch die Tiere mit im Haus. Ein gestreckter Bau, zwischen zwölf und 40 Meter lang, etwa sieben Meter breit, mit hohem Giebel, getragen von Stützenreihen. So kann man sich das europäische Langhaus vorstellen, das im Prinzip bis ins Mittelalter funktioniert. Varianten dieser Bauform finden sich überall auf der Welt. Es gibt aber auch rund angeordnete Gemeinschaftswohnhäuser, die allerdings weniger leicht zu erweitern sind.

Mit dem Aufkommen von Arbeits­räumen, die außerhalb der Wohnstätten angelegt werden, weil sie viel Platz brauchen, ändern sich die Konzepte. Sobald nicht mehr nur für den Eigenbedarf pro­duziert wird, entstehen Werkstätten mit eigenen Räumlichkeiten. Diese Arbeiten hatten davor noch Platz auf dem überdachten Vorplatz gefunden, werden nun aber in eigene Arbeitsräume ausgelagert. Das Atelier, die Werkstatt, der vom Alltags­leben getrennte Arbeitsplatz entsteht.


Doppelwohnhaus Woinovichgasse 1 & 3, Werkbundsiedlung Wien (Architekt Hugo Gorge)
© Bwag/CC-BY-SA-4.0

Repräsentation
Eine andere Tradition entwickelt sich aus dem gehobenen römischen Wohn- und Lebensstil, seinen Villen und Gartenanlagen. Wieso man sich im sogenannten Mittelalter nicht mehr an solchen Wohnformen orientierte, die durchaus luxuriös waren  – mit Bodenheizungen, verzierten Möbel­stücken, schön gefärbten Wänden – da­rüber gibt es viel Spekulation. War es die Abneigung gegen die Kolonialisten? Oder Ignoranz? Oder die Ablehnung anderer Lebensstile?

Palladio jedenfalls nahm Anleihen an antiken Bauten und vertrat die Ansicht, dass die römische Architektur für alle sozialen Klassen verfügbar gemacht werden könne. Seine Kühnheit, vormals rein dem sakralen Bereich zugeordnete Elemente wie Säulen in profane Zusammenhänge einzubauen, sicherte seinen Einfluss nachhaltig. Nicht nur Villen für wohlhabende Bürger wurden in seinem Stil errichtet, auch Kirchen, Banken, Wohnhäuser. Die harmonischen Proportionen eignen sich für vielfältige Belange. So wurde 2012 in Somerset, England, ein Palladio-inspirierter Kuhstall gebaut, der die Reichweite dieser Ästhetik demonstriert. Eine Welt ohne Palladios Erbe wäre eine sehr deprimierende, so bringt es Charles Hind, Chefkurator der Sammlungen des königlichen Instituts britischer Architekten und Baumeister, auf den Punkt.

Palladianismus wird aber seit Langem auch als inflationäre Angeberarchitektur verwendet, indem einzelne Elemente überbetont und überinterpretiert werden, was wie ein Bauen mit Siegergeste anmutet. So kann der Erfolgreiche als Symbol seiner Macht und seiner Überlegenheit mit den vormals sakralen Versatzteilen Herrschaft demonstrieren. Dass es sich hierbei um eine stark vereinfachte Deutung komplexer Denkgebäude handelt, steht der Verwendung der Elemente nicht im Wege. Das Auftrumpfen mit Steinsäulenfassaden bedient sich einer Grammatik, die eine höhere Macht symbolisiert, wie im Tempelbau.


Moderne Wahrnehmung und Nutzung
Architektonische Anleihen an Gesten der Herrschaft finden sich auch in den Mietshäusern in den Städten, deren Fassadenornamente sich oft an den schönen Bürgerhäusern orientieren. Heute gelten diese Gebäude ja häufig als stilvolle Altbauten. Zu bedenken ist hierbei, dass früher ganze Familien in einem einzigen Zimmer untergebracht waren. Mit der industriellen Revolution ziehen mehr und mehr Menschen in die Städte – die Mietkasernen sind Ausdruck dieser Entwicklung. Viele gleichen eher Wohnkästen als proportionierten Häusern. Wohnen war immer eine Frage der finanziellen Mittel und der sozialen Klasse. So prägte denn auch das Bürgertum des 19. Jahrhunderts langfristig die Idee vom schönen Wohnen – edle Möbel, Porzellan, Teppiche: Man zeigt, was man hat. Diese Haltung erinnert an Trends wie „Hygge“, die ein gewisses biedermeierliches Potenzial haben. Verglichen mit anderen Epochen und Regionen bleiben einige dieser Merkmale konstant. Aber auch die Gegenbewegung oder der Antireflex – Geradlinigkeit, Minimalismus – finden sich häufig in größerer zeitlicher Nähe zum Rückzug in den idealen Innenraum des 19. Jahrhunderts als gedacht.

Als eines der wichtigsten Projekte der Wiener Moderne gilt die Werkbundsiedlung in Hietzing. Unter der Gesamtleitung von Josef Frank waren die wichtigsten österreichischen und einige internationale Architekten dieser Zeit beteiligt wie Josef Hoffmann, Clemens Holzmeister oder Oskar Strnad. 1932 als Exempel für die moderne Art zu leben und das „Neue Wohnen“ eröffnet, gelten die 70 Häuser als elementarer Baustein im Kosmos des kommunalen Wohnbaus des sogenannten „Roten Wien“. Als Reaktion auf die verheerende Wohnungsnot nach dem Ersten Weltkrieg wurden zahlreiche, leistbare und gut ausgestattete Wohnungen geplant und errichtet. Bereits 1927 war in Stuttgart auf Initiative des Deutschen Werkbundes die „Weißenhofsiedlung“ eröffnet worden, die neue Impulse für das Wohnen setzte, von der Raumaufteilung bis zu den Wandfarben, von der Einrichtung bis zur Dach­terrasse mit Blick über die Stadt. Vertreter moderner Architektur wie Hans Scharoun, Le Corbusier und Walter Gropius hatten mitgewirkt – ebenso Josef Frank und Ludwig Mies van der Rohe, der die Gesamtleitung innehatte.

1927 wurde in Stuttgart auf Initiative des Deutschen Werkbundes die „Weißenhofsiedlung“ errichtet. Vertreter moderner Architektur wie Hans Scharoun wirkten mit.
© CC-4.0

Minimalismus, Urbanismus und öffentlicher Raum
Mit dem „Farnsworth House“ führte Mies van der Rohe seine minimalistischen Bestrebungen noch weiter. Das erste Einfamilienhaus nach der Emigration in die USA ist eigentlich ein Einpersonenhaus und in diesem Sinne eine frühe Adaptierung des Singlehaushalts. Die Entstehungsgeschichte mit gerichtlich durchgefochtenen Zerwürfnissen zwischen Auftraggeberin und Architekt mag zur Prominenz des Gebäudes das Übrige beigetragen haben. Wichtig ist jedenfalls die extreme Reduktion in der Architektur, die sich im Inneren durch Wegfall von Türen und Wänden fortsetzt. Die umgebende Natur dringt durch groß­flächige Verglasungen direkt ins Innere und spielt eine noch weitaus größere Rolle als etwa bei der Villa Tugendhat, deren Gesamt­anlage ebenfalls mit dem Wachstum der umgebenden Pflanzen spielt. Farnsworth House folgt wie ein Gegenstück direkt auf den Bau von zwei Apartmenttürmen am Lake Shore Drive in Chicago, die durch den Einsatz von Glas und Stahl Transparenz und Leichtigkeit vermitteln.

Der mehrgeschoßige Wohnbau be­gleitet also das Leben in der Stadt seit antiken Zeiten, ebenso das idyllische Anwesen in Alleinlage. Tendenzen zwischen einem Verständnis von Stadt als extremer Ausgrenzung von Natur und der Sehnsucht nach urbanisierter Natur wie in Parks mit Blumen, Wasser und Tieren bilden die Extrempole. Baukunst steht in der Vermittlerrolle zwischen Individuum und Gesellschaft. Als kreative Leistung gehört sie nie einzelnen „Architektengenies“ an, obwohl skulptural angelegte Einzelbauten dies häufig nahelegen. Im besten Fall lassen sich die einzelnen Elemente wie eine Melodie miteinander verbinden und auch die Lücken können wirksam werden – hier findet dann das öffentliche Leben statt.


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