Susanne Karr

freie Kulturredakteurin, Wien/München

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Do swidanja Europaufer?

So könnte das Europaufer in St. Petersburg aus der Vogelperspektive aussehen. Zeichnung: Evgeny Gerasimov (+ partners) EGP, St. Petersburg © Archiv

Wenn man auf den großzügigen Boulevards, entlang den Palais durch die Stadt flaniert oder durch pittoreske Gässchen an bunten Barockfassaden von einer zur nächsten Brücke schlendert, fällt es nicht schwer, St. Petersburg als einen in Stein gebauten Traum des Zaren Peter des Großen zu sehen. Die Stadt ist aus dem Wunsch des Zaren entstanden, sich selbst und Russland ein prächtiges, lebendiges Denkmal zu errichten, ein Fenster nach Europa zu öffnen und durch dieses Fenster zugleich den Zugang zur Ostsee zurückzuerobern. 1703 wurde mit der Peter-und-Pauls-Festung die Stadtgründung begonnen. Die Stadt ist auf dem Reißbrett entworfen, ausgestattet mit allem, was teuer und schön ist. Peter der Große bewunderte Amsterdam und lud holländische Architekten und Ingenieure ein, bei der Planung der Stadt, bei der Trockenlegung und der Anlage von Kanälen behilflich zu sein.

Die Ziegelbauweise der Amsterdamer Architektur diente als Vorbild. Die Bauten mussten alle aus Stein sein. Steinmetze aus dem gesamten Reich wurden nach St. Petersburg verpflichtet. Bald folgten den holländischen Baumeistern Italiener, Franzosen und Deutsche. Nach deren Plänen schufen zahllose leibeigene Arbeiter monumentale Anlagen und reich verzierte Fassaden. Am Südufer der Newa ließ der Zar seine Residenz errichten - später wurde der Palast in die Eremitage integriert. Der Großzügigkeit des Stadtentwurfs kann man sich auch heute nicht entziehen. Ein Bestehen auf harmonischer Proportion, Eleganz und doch Gewagtheit in der Farbgebung bezeugt einen Gestaltungswillen, der sich an holländischen oder anderen europäischen Städten inspiriert, darüber aber noch weit hinausgeht. St. Petersburg besitzt unzählige Brücken, die Kanal- und Flussinseln verbinden.

Wider die Globale Repräsentations­architektur

Viele Gebäude sehen längst nach der Leningrader Periode mit wenig Renovierungsambitionen wieder strahlend schön aus. Das Zentrum von St. Petersburgs ist jedoch zu groß, um einheitliches Schmuckkästchen zu sein. In Seitengassen finden sich bröckelnde Fassaden, immer wieder trifft man auf Baustellen. Restaurierungsarbeiten, die teilweise ganze Straßen in Offroad-Gelände verwandeln, sind häufig. Aber man trifft auch auf Baustellen des 21. Jahrhunderts, die sich aufmachen, ganz neue Stadtareale zu definieren. Die meisten befinden sich etwas außerhalb des historischen Zentrums.

Wer aus dem Stadtkern den schnurgeraden Magistralen in die Außenbezirke folgt, kann noch einiges vom Plattenbauflair der Nachkriegszeit durchleben. Aber auch die erst vor einigen Jahren errichteten Neubauten auf einer Fläche von insgesamt drei Millionen Quadratmetern lassen angewandtes städtebauliches Know-how, gerade in Bezug auf Grünflächen und öffentlichen Raum, vermissen. Industrie- und Wohngelände, die ans Zentrum anschließen, werden bedauerlicherweise häufig unter Zeitdruck und unter Vernachlässigung der Lebensqualität zukünftiger Bewohner errichtet. Sie zeigen sich von deutlich weniger Achtsamkeit in Bezug auf ästhetische und qualitative Kriterien geprägt als die Repräsentationsbauten in zentraler Lage.

Diverse Renommierprojekte der bekannten Machart in Glas und Stahl hat man aber noch vor Baubeginn wieder fallengelassen. Das Stadtbild dürfe nicht von Glas-Stahl-Quadern zerstört werden, wird immer wieder argumentiert. So hatte etwa der Ausgang der Parlamentswahlen den Unmut der Bürger über den geförderten Bau eines Wolkenkratzers in Zentrumsnähe gezeigt. Das Projekt eines 400 Meter in die Höhe ragenden Turms, um dessen Realisierung unter anderen Daniel Libeskind, Norman Foster und Jean Nouvel konkurrierten, wurde wieder ad acta gelegt. Der Streit um den geplanten Firmensitz für Gazprom hat die Stadt letztlich bewogen, sich aus der Finanzierung zurückzuziehen. Die Forderung nach mehr Mitspracherecht der Öffentlichkeit und nach mehr Bezugnahme auf aktuelle Fragestellungen, jenseits rein prestigeträchtiger städtebaulicher Kriterien, wird hörbar; die üblichen Diskussionen und die üblichen Beruhigungsstrategien, wenn es um Architektur in historisch aufgeladener Nachbarschaft geht, könnte man sagen. Aber auch ein deutliches Zeichen dafür, dass globale Repräsentationsarchitektur von Teilen der Öffentlichkeit nicht als wichtig und schon gar nicht als förderungswürdig empfunden wird.

Geweckte Begehrlichkeiten

In unmittelbarer Nachbarschaft zum historischen Zentrum soll nun ein neuer Stadtteil entstehen. Das Areal „Europaufer" liegt am „kleinen Arm" der Newa, ist über Brücken mit der Altstadt verbunden. Die neue Nutzung eines so zentralen Viertels erweckt Aufmerksamkeit und Begehrlichkeiten. Seit dem Beschluss zur Bebauung des Areals wird überlegt und diskutiert, was überhaupt dort gebaut werden soll; wie es aussehen soll; wen man zum Wettbewerb einladen soll. Auf einer Fläche von zehn Hektar soll gebaut werden. Wo früher das „Staatliche Institut für Chemie" Rüstungsforschung und -entwicklung betrieben hatte, können seit Jahresende 2012 wieder neue Pläne zur Raumnutzung geschmiedet werden. Das Projekt der Wettbewerbsgewinner von 2009, Sergei Tchoban (nps Tchoban Voss) und Evgeny Gerasimovs (EGP) wurde noch vor Baubeginn, trotz bereits erfolgter amtlicher Genehmigungen, wieder abgesagt. Möglicherweise hat der Wechsel der St. Petersburger Stadtregierung damit zu tun. Änderungen in der Benutzung zeichnen sich jedenfalls bereits ab.

Der Plan, das Oberste Gericht und das Oberste Schiedsgericht von Moskau nach St. Petersburg zu verlegen, wackelt schon wieder. Der Umzug der Gerichte würde zwar die Stadt gegenüber Moskau in ihrer Rolle als zweite Hauptstadt weiter aufwerten. Moskau wäre das politische, St. Petersburg das kulturelle Zentrum mit Sitz der Legislative. Momentan sind allerdings die Umzugspläne und vor allem deren Konsequenzen sehr umstritten. Nicht nur wird durch den Zuzug zahlreicher Gerichtsangestellter und deren Familien ein Verkehrschaos befürchtet, auch hätte ein etabliertes städtisches Spital einem neuen, elitären medizinischen Zentrum für Richter und Gerichtsmitarbeiter weichen sollen. Spontan organisierte Proteste zeigten den Unmut der Bürger und deren Anspruch auf Mitbestimmung. Inwieweit nun die Planungen Sergei Tchobans und Evgeny Gerasimovs nach einer Neudefinition der Planungen relevant werden oder ob die Büros bei einer Neuausrichtung wieder in die Planungen eingebunden werden, kann derzeit noch nicht gesagt werden.

Wohnen neben Attraktionen

Zurück aber zum geplanten Projekt. Das in der Ausschreibung enthaltene Nutzungskonzept widmete den größten Teil des Areals für Wohnflächen. Büroflächen waren ebenfalls vorgesehen, und der Platz mit der schönsten Aussicht auf die Newa und hinüber in die Altstadt war für ein Hotel vorgesehen. Die architektonische Hauptattraktion sollte das moderne Balletttheater sein. Über das Wasser hinweg fällt der Blick auf das Winterpalais, die weltbekannte Kunstsammlung Eremitage. Türkisgrün, weiß und golden, wirkt sie schon rein äußerlich, nicht nur durch das Wissen um die in ihr aufbewahrten unermesslichen Kunstschätze, als unumstrittener Blickfang. Auch die Fürst-Vladimir-Kathedrale und die Börse befinden sich in unmittelbarer Nähe, jene die Stadt maßgeblich definierenden Monumente.

Das Areal bietet also von vornherein hohes Prestige. Ein Masterplan muss sich gleichzeitig einordnen und behaupten können. Das St. Petersburger Architekturbüro Evgenij Gerasimov und das Berliner Büro Tchoban-Voss hatten sich im geladenen Wettbewerb unter anderem gegen die Beiträge von David Chipperfield, Mario Botta, Rafael Moneo und Studio 44 durchgesetzt. Die Jury zeigte sich überzeugt von der „gelungenen Vermittlung zwischen dem äußeren Erscheinungsbild des Viertels und seinen reichen Bezügen auf die umliegende Stadtlandschaft und ihre Dominanten". Als überzeugend erwies sich auch der Verzicht auf „Höhendominanten". Der gekürte Entwurf nimmt die historischen Achsen als Blickführung ernst.

Klassisch modern interpretiert

Das annähernd dreieckige Areal wurde von den Blickachsen hin zur Peter-und-Paul-Kathedrale auf der Haseninsel und zur mächtigen Isaakskathedrale hin mit der goldenen Kuppel konzipiert. Der Entwurf von Gerasimov/Tchoban führt nun die traditionellen stadtplanerischen Konzepte weiter: Die Gebäudeanlagen der Altstadt folgen vielfach den topografisch vorgegebenen Linien, weshalb man neben rechtwinkligen auch trapezförmigen, dreieckigen, fünfeckigen, konkaven oder geschwungenen Gebäuden und solchen mit scharfen Ecken begegnet. Manchmal vereint eine einzige Kreuzung mehrere solcher Gebäude. Diese Variationsfreudigkeit findet sich auch im Masterplan wieder. Tchoban/Gerassimov verstehen ihren Entwurf als klassisch moderne Interpretation der Stadt: Bezugnehmend auf die Architekturen der 300 Jahre alten Stadt vom russischen Barock bis zum klassizistischen Baustil Iwan Fomins haben sie eine geradlinig elegante Formensprache entwickelt, die Elemente aus der Gründerzeit wie Skulpturen und vorspringende Gebäudeteile mit schlichter Linienführung vereinigt.

Kombiniert mit einer streng geometrischen Straßenführung, die auf die Aussichtspunkte hin ausgelegt ist, schaffen die unterschiedlichen Gebäudelinien zugleich individuelle Innenhöfe und Gartenanlagen und suggerieren ein „gewachsenes Stadtviertel". Zur Wasserseite hin dominieren klare Fassadenfronten wie bei den klassischen Uferstraßen an der Newa üblich. Vom Wasser weg aber, in die Insel „hinein", ist im Plan eine Art „Stilverlauf" vorgesehen, realisiert in einer „Parade unterschiedlicher Fassaden", die von verschiedenen Architekten gestaltet werden sollte. Dadurch sollte eine Vielfalt der Gestaltung garantiert werden. So stammen Entwürfe für Fronten von sieben bis acht Baublocks zur Wohn- und Geschäftsnutzung auf dem Platz des Balletttheaters von Erick van Egeraat, Cino Zucchi und Paolo Desideri. Entwürfe von Hillmer & Sattler und Albrecht, Ortner & Ortner und der Architektenpaare Nalbach und Kahlfeldt waren für Fassaden in den Gassen vorgesehen und für die Wasserfront Planungen von Patzschke & Partner, Krier Kohl Architekten und Christoph Langhoff. Steinfassaden mit Risaliten überwiegen in den Entwürfen. Die Gebäudehöhen variieren - von 23 Metern am Ufer bis hin zu 28 Metern am Platz des Balletttheaters.

Die Idee, die Gestaltungsfreiheit aufzulockern, je weiter man vom Altstadtbereich wegkommt, sollte seinen Höhepunkt im neuen Tanzpalast für das St. Petersburger Ballettensemble Boris Eifman erreichen: Auf einem oval angelegten Platz sollte das Amsterdamer UN Studio Ben van Berkel eine fließende Gebäudeskulptur einbringen, mit 40 Metern Höhe das höchste Gebäude des Areals. Umgeben von Wohn- und Geschäftsblöcken in der ortsüblichen Traufhöhe der angrenzenden Stadtgebiete sollte der Platz rund um das Eifman-Theater ein zeitgenössisches Statement und gleichzeitig ein Bekenntnis zur europäischen Stadtstruktur werden.

Der Masterplan sieht auch eine Wiederaufnahme des attraktiven Prinzips des St. Petersburger Ufers vor: von der Peter-und-Pauls-Festung könnte man dann bis zum sowjetisch-modernistischen Eisstadion und zu dem im stalinistischen „Empire-Stil" errichteten Petrowski-Fußballstadion am Fluss entlang flanieren.

Momentan gleicht der zukünftige Stadtteil am Europaufer aber noch einem wüsten Abrissgelände. Die Verhandlungen laufen, die Spannung steigt.

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