Susanne Karr

freie Kulturredakteurin, Wien/München

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Mehr Platz für alle!

Kulturstrand an der Isar in München © Benjamin David

An welchem Fluss liegt ...? - Das ist eine typische Frage nach geografischem Grundwissen. Was aber für die Charakteristik einer Stadt noch wesentlich aufschlussreicher sein kann als die bloße Zuordnung topografischer Benennungen, ist jedenfalls die Frage nach dem Umgang der Stadt mit ihrem Fluss, inwiefern der Fluss das Leben in der Stadt bestimmt. Historisch gesehen war die Lage an Flussläufen oder überhaupt in der Nähe von Süßwasserreservoirs oft für Ansiedlungen ausschlaggebend. Heute geht es aber um die Umgangsweise mit typischen, von Wasserläufen geprägten Landschaften.


Die Aneignung der Stadt 

Die Wiederaneignung öffentlicher Räume durch die Stadtbewohner ist ein weithin präsentes Thema. Dabei geht es häufig um die Mitgestaltung von Bereichen, die momentan von anderen Komponenten als den Bürgern - ob als Fußgänger oder Radfahrer - in Beschlag genommen werden. Meist sind dies Orte hohen Verkehrsaufkommens, die dem städtischen Zusammenleben durch Lärm und Unfallgefahren entzogen werden. Diese Areale befinden sich häufig sogar in Zentrumslagen, wurden aber lange Zeit nur als Durchzugsstraßen oder vielbefahrene Stadtmagistralen akzeptiert. In Wien war das etwa das Umfeld des Donaukanals, bis durch Initiativen auf Bezirksebene und tatkräftige Umsetzung mit vielfältigen gastronomischen Projekten von der summerstage bis Strandbar Hermann das brachliegende Potenzial eines Stadtareals direkt am Wasser sichtbar und nutzbar gemacht wurde.

Durch Kulturinitiativen und Gastronomie wurde im Laufe der Jahre der Bereich um den Donaukanal völlig neu definiert, der inzwischen eine charakteristische Rolle in der Stadt spielt - vor allem im Frühling und Sommer. Von Sportanlagen bis zum anspruchsvollen Restaurant finden sich viele Möglichkeiten. Auch die Aufwertung der anschließenden Stadtviertel kann im Zusammenhang mit der Belebung des Donaukanals in direkten Zusammenhang gebracht werden. Das klare Bekenntnis zu den Vorteilen einer Lage am Wasser findet in der Wiener Öffentlichkeit großen Anklang. Die Bebauung mit großzügigen Bürgerhäusern, meist aus dem 19. und vom Beginn des 20. Jahrhunderts, am stadteinwärts führenden Ufer und die modernen Büro- und Versicherungsgebäude auf der gegenüberliegenden Seite werden in der verlangsamten Betrachtung vom Donaukanalufer aus zu bestimmenden Positionen der Stadtwahrnehmung und -erfahrung.


Leben am Fluss 

Ähnliches lässt sich in München beobachten, wo der innerstädtische Isarbereich eine von der Stadtgeografie her dem Wiener Donaukanal vergleichbare Situation schafft. Der Fluss durchquert die Stadt und versammelt so einige identitätsstiftende Bauten an seinen Ufern. Das wie ein luftiger Palast auf der Anhöhe des Ostufers thronende Maximilianeum, einst königliche Pagenschule und Athenäum, der Friedensengel, der vom Isarhochufer in die Stadt hinunterwinkt, einige Kirchen, das Jugendstil-Volksbad, das Deutsche Museum auf einer der beiden innerstädtischen Isarinseln usw. Dort, wo Ende des 19. Jahrhunderts ansehnliche Bürgerhäuser entlang der Isarpromenade errichtet worden waren, machte im Lauf des 20. Jahrhunderts der ständig wachsende Individualverkehr ein Spazieren am Fluss mehr und mehr unmöglich.

Genau diese Situation war für die Akteure der urbanauten ein Stein des Anstoßes: Als Verein für urbanistische Fragestellungen aus einem interdisziplinären studentischen Debattierclub hervorgegangen, verstehen sie sich als Labor für Konzepte und Projekte für den Münchner öffentlichen Raum. Seit Jahren sind die urbanauten mit Fragestellungen zum städtischen Lebensraum in Theorie und Praxis befasst. Ihr Ziel dabei ist die Rückgewinnung von Stadtarealen für die Münchner Bevölkerung einerseits und eine Steigerung des Zusammenlebens andererseits. In einer „Denkfabrik" werden öffentliche Debatten veranstaltet und Stadtforschung betrieben. Einige Nutzungskonzepte für den öffentlichen Raum zeigen sich dabei von Projekten aus Barcelona inspiriert. Ganz aktuell versucht man etwa ein dortiges Lärmverhinderungskonzept für beliebte Szeneviertel in München zu übernehmen. Hierbei hat man in Barcelona Folgendes initiiert: Wenn die abendlichen Gäste auf den Straßen zu laut sind, schreiten Pantomimen mit sanften, natürlich nonverbalen Gesten ein und regen so ein rücksichtsvolleres Verhalten an.

Bereits seit der Olympiade 1992 sieht man in Barcelona die Thematik öffentlicher Raum und städtisches Zusammenleben im Bereich der Stadtentwicklung als zentrales Thema. Der Umgang mit dem Stadtraum besetzt dort eine Prioritätsstufe, auf der sich in Städten wie München oder Wien das Thema „Mobilität" angesiedelt haben mag. Mit Mobilität ist meist aber immer noch nur der private Verkehr gemeint. Und wenn der Raum zwischen Gebäuden geplant wird, gibt man meist der Fahrzeug-Mobilität den Vorzug. Zunehmend wird jedoch ein Umschwenken auf die Nutzer dieser Räume gefordert und auch konzipiert. Meist wird dabei aber immer noch zu wenig an Interaktion, an Begegnung oder einfach nur an Aufenthaltsqualität gedacht.


Mehr Aufenthaltsqualität 

Für die urbanauten ist die innerstädtische Isar ein zentrales Anliegen. „Dies ist der Ort, an dem München erfunden wurde", sagt Benjamin David, Gründungsmitglied der Gruppe. Seit die alte Isarbrücke in Oberföhring auf Geheiß Heinrichs des Löwen angezündet wurde, hat sich der Transportweg verlagert - hin zur damals entstehenden Ansiedlung rund um die neue Isarbrücke in München. Hier entstand nun ein Schnittpunkt der Handelswege, 12.000 Floße wurden jährlich abgefertigt und/oder verladen. Auf diesem Weg verlief der Großteil der Transporte von Rom nach Wien: von Italien nach Mittenwald per Kutsche, dort auf Floße gesetzt. Neben dem Kloster auf dem Petersbergl gab es im zukünftigen München damals nicht viel, das auf eine Stadtentwicklung hingedeutet hätte. Die Isar und ihre Brücken wurden aber nun strategisch wichtig. Als Markierungen des Salzhandels erzielte man durch sie erhebliche Zoll­einnahmen.

Und die Isar als schiffbarer Wasserweg verstärkte die Bedeutung der Stadt als Markt und Handelsplatz, umso mehr, als die transportierten Waren hier drei Tage zum Verkauf angeboten werden mussten. Später wurde die Flößerei nach Süden verdrängt. Seit 1880 gab es wilde Bautätigkeiten, Kirchen, Bürgerhäuser, ein großes Volksbad und eine Schnapsbrennerei wurden errichtet. Im 19. Jahrhundert wurden wie am Donaukanal zum Hochwasserschutz stattliche Kaimauern konstruiert, wodurch neue innerstädtische Flächen gewonnen werden konnten: Für die Flößerei war alles verflacht worden, und so gewann man jetzt 200 Meter auf beiden Seiten. Diese Räume dienten nun der Stadt zur Inszenierung. In temporären Pavillonbauten fanden Kunstgewerbeausstellungen, eine Kraft- und Arbeitsmaschinen-Ausstellung und die erste Deutsche Sportausstellung statt. Auf der sogenannten „Praterinsel", einer zentralen Flussinsel, die sich vom Wiener Prater inspiriert zeigte, wurden Vergnügungen von Schiffsschaukeln, Kegelbahnen bis zu einem Kaffeehaus im Wiener Stil geboten.

Stadt, Ort der Kommunikation München wollte europäische Weltstadt sein. Wo heute eine vierspurige Straße entlangführt, gab es früher einen urbanen Boulevard. Von den Balkonen aus konnte man Ruderboote be­obachten, dazwischen waren Fontänen im Fluss installiert. Diese Vergnügungen inmitten der Stadt, eigentlich an den schönsten Lagen entlang des Flusses, inspirierten die urbanauten zu ihrem Projekt „Kulturstrand", das seit 2002 jeden Sommer die Innenstadt belebt. Zunächst war die Idee einer städtischen Intervention nicht von vornherein für Strandbars konzipiert, sondern zur Inszenierung eines temporäreren öffentlichen Raums gedacht. Verkehrsinseln sollten zu Ferieninseln umfunktioniert werden. Aus Sicherheitsgründen wurden diese aber nicht genehmigt. Die Idee, gestresste Städter durch einen „Strandimport" entspannen zu lassen und in einer Verlangsamung auf das vorhandene Potenzial hinzuweisen, ist gewiss auch von den alten Bildern inspiriert worden. Man stellt sich vor, dass „nervöse Städter zu urbanen Badenixen" werden. In der Isar wird gebadet - und das schon lange. Während der „Kulturstrand"-Zeiten gibt es nun auch ein Begleitprogramm. Aber es geht nicht immer nur um Konsum, sondern im Wesentlichen auch um das Verweilen.

Sitzgelegenheiten sind daher ein wichtiges Mobiliar im öffentlichen Raum. Und das Stiften von Parkbänken hat in München Tradition; eine innovative Neudefinition der Parkbank kristallisierte sich beim studentischen Architekturwettbewerb „Isarlust" für die künftige Gestaltung des Kulturstrandes an der Ludwigsbrücke (2012) und der Corneliusbrücke (2013) heraus. Anna Bischoff, Studentin der Kunstakademie in der Klasse von Maria Auböck, entwickelte eine „Parkbank" als flexible Sitzsack-Kunstinstallation: „Isarlust=Covolvulaceae. Parkbank 2.0". Die Sitzinstallation schlängelt sich in Rot um den Vater-Rhein-Brunnen und die Insel entlang. Die ersten 112 Meter wurden von Ulrike Bührlen und Benjamin David (urbanauten) und ihrem gastronomischen Mitstreiter Hermann Zimmerer (Convivivum Gastronomie) gestiftet. Ganz dem Schwarmgedanken folgend, kann man sich beteiligen und Teil des Kunstprojekts werden, mit jedem Euro soll die Installation um zwei Millimeter weiterwachsen. Die Rückgewinnung des wertvollen Stadtgeländes direkt am Wasser wird auch im kommenden Jahr wieder zelebriert. Wo zwischen Cornelius- und Tivolibrücke dem Autoverkehr immer mehr Vorrang eingeräumt worden war, zeigt sich, wie die Stadtbewohner diese Räume wiedergewinnen und neu für sich entdecken. Es wird ein breitgefächertes Programm geboten, das Stadt als kommunikativen und realen Ort präsentiert. (urbanaut.org, kulturstrand.org)


Kinder, schafft Neues! 

Die urbanauten kombinieren Einflüsse der historischen Stadtforschung mit aktuellen Erkenntnissen und Erfahrungen und laden zur Beteiligung ein. Dabei ist ihnen fast jedes Mittel recht - von koordinierten SMS-Aktionen über Rad-Sternfahrten bis zu Straßenfesten. Es soll ein Gefühl für Raum und dessen gemeinschaftlicher Verwendung entstehen. Und es geht immer auch darum, dem Diskurs um den öffentlichen Raum Beachtung zu schenken, das heißt, ein Bewusstsein dafür in der Bevölkerung zu verankern. Die urbanauten setzen auf Kunst- und Kulturaktionen verschiedenster Art: Vom SMS-happening „Starlings" über eine Opernhausbesetzung - Aktionen, die übrigens von der Bayerischen Staatsoper unterstützt wurden - bis zum „Isarstrand" mit Konzerten und Lokalen stellen sie die Stadt als Lebensraum auch in ihrer Dimensionalität dar. Und öffentlicher Raum oder, wie Benjamin David es ausdrückt, „öffentlicher Zwischenraum" entsteht, wenn Menschen gleichzeitig in der realen analogen Stadt unterwegs sind. Und im Falle der SMS-Happenings gilt dies auch in der digitalen, virtuellen Version der Stadt, die eine Folie für Ereignisse „im richtigen Leben" bietet. Die Stadtintervention „Starlings" verstand sich demnach als Weiterentwicklung einer digital initiierten Schwarmbildung, die sich Stare zum Vorbild genommen hat, wie sie sich vor dem Abflug sammeln und dann in einem äußerst koordinierten Schwarm in die Lüfte bewegen.

Das Prinzip des Flashmobs wurde aufgegriffen und zum „urbanen Schwärmen" weiterentwickelt. In der Opernhausbesetzung kam die spielerische Inanspruchnahme der Hochkultur durch alle hinzu: genau zur Eröffnung der Münchner Opernfestspiele wurde „voll sommerlicher Leichtigkeit" das Nationaltheater besetzt. „Zur Freiheit, ihr Helden!" nannte sich diese Veranstaltung, mit der die Staatsoper die Bühne für eine öffentliche Performance im eigenen Haus bot. Eine ästhetische Revolte sollte das bekunden, hieß es im Text. Stadtraum und auch die Institutionen der Stadt werden so zur zurückgeforderten Größe für alle. Die Idee des intelligenten Schwarms ist dabei wesentlich - sie verweist auf Aktivität und Verantwortlichkeit jedes Einzelnen und negiert die Konnotationen einer steuer- und manipulierbaren Masse.


die urbanauten | Debatten, Konzepte, Projekte für öffentliche Räume in München: www.urbanaut.org

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