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Auf dem Holzweg durch Montenegro | Reisereportage NZZ

Die Schlucht der Tara ist die tiefste und längste Schlucht Europas. Dank den vielen Wasserfällen und Kaskaden ist der Fluss ein Paradies für Wassersportler. (Bild: Imago)

Im kleinen Balkanland war die Natur schon immer das grösste Kapital. Wo früher das Holz transportiert und verschifft wurde, können heute Touristen wandern oder Boot fahren. Doch diese müssen erst kommen.

Wenn Darko Bulatovic in sein Boot steigt, weiss er nie so genau, was ihn erwartet. Dabei macht er eigentlich immer genau dasselbe: das Gleichgewicht in der Mitte halten, von zu schroffen Felsen weglenken und die Stromschnelle sehen, bevor sie da ist. Dann ruft er sein Kommando: "Now everybody", darauf versenken mit Helmen und Schwimmwesten ausgerüstete Leute ihre Paddel tief im türkisfarbenen Wasser und versuchen, Takt zu halten. Das dauert ein paar Ruderschläge, dann wälzt sich die Tara wieder mit unerschütterlichem Gleichmut durch den Canyon. Das Unvorhergesehene ist für Skipper Bulatovic selten der Fluss.

Die Touristen sind es, die er nie so ganz einschätzen kann, die sich nie so ganz kontrollieren lassen. Manchmal machen sie komische Sachen. Wenn sie die Gewalt der Natur völlig unterschätzen und denken, sie könnten einfach so gegen die Strömung anschwimmen. Wenn sie überall herumklettern wollen, auch wenn sich unter ihnen tausend Meter Schlucht auftun. Oder wenn sie nicht aufhören, die Landschaft mit ihren Handys zu filmen, obwohl sie eigentlich rudern sollten - und deshalb das Boot aus dem Gleichgewicht gerät.


Im Zentrum der Fluss

Wenn der Fluss ruhig fliesst, erzählt Steuermann Bulatovic seine Geschichten. Das Rafting gibt es in Montenegro schon seit über 100 Jahren. Früher transportierten Holzarbeiter grosse Stämme, die wie ein Floss vertäut waren, über die Tara bis in die Donau nach Serbien. Die Strassen waren schlecht, die Berge kaum zu überwinden. Da blieb nur der Fluss. Die Arbeit aber war gefährlich, denn in den vielen Stromschnellen der Tara konnten sich die Baumstämme leicht verkanten und querlegen. Viele Arbeiter starben beim Versuch, die wuchtigen Stämme in der reissenden Strömung mit ihren Werkzeugen loszubekommen. In der tiefen Tara-Schlucht kam jede Hilfe zu spät.

"Touristen sind da weit weniger gefährlich", beendet Bulatovic seine Geschichte mit einem Zwinkern. Langweilig wird es ihm trotzdem nie. Einmal verschätzt sich auch der erfahrene Steuermann: Die Gruppe soll sich das letzte Stück auf dem Rücken im Fluss treiben lassen, ohne Boot. Und auf ein Zeichen an einer seichten Stelle ans Ufer schwimmen. Doch eine Schwimmerin versteht das Zeichen nicht und winkt zurück - bevor sie davontreibt. Zum Glück kann sie sich hundert Meter weiter an den Rand kämpfen. Die Strömung ist jedoch auch dort noch so stark, dass sie nicht aus eigener Kraft aus dem Fluss kommt. Sie muss herausgezogen werden.

Früher, lange bevor Touristen ins Hinterland kamen, arbeitete Bulatovic in der Landwirtschaft, im Staatsbetrieb. Doch dann brach der Kommunismus zusammen und mit ihm das ganze kollektive Agrarsystem. Irgendwann kaufte er sich ein Boot und nahm die ersten Gäste mit auf seine Rafting-Touren. Für Menschen wie ihn sorgt so der Fluss.

Viel Arbeit gibt es nicht hier im Norden Montenegros, das sieht man der Gegend an: Die wenigen Dörfer sind nicht mehr als kleine Ansammlungen von Häusern, eigentlich eher Hütten. Ein paar Schafe, Ziegen, Hühner, hin und wieder auch eine Kuh. Hotels findet man nur sporadisch, einige stehen im einzigen grösseren Ort Zabljak, wo 2000 Seelen leben. Umso skurriler wirken die Restaurants, die plötzlich mitten im Nirgendwo auftauchen. Sonst ist es einsam. Die jungen Leute haben die Gebirgsregion längst verlassen und suchen anderswo ihr Glück: an der Küste, wo es mehr Touristen und Arbeit gibt. Oder gleich ganz im Ausland. Viele der alten Steinhäuser stehen leer und sind verfallen. Manche sehen auch bloss so aus. Für ein neues Dach haben die Menschen hier kein Geld.

Doch was die Einheimischen haben, ist ihre ursprüngliche Natur: die urwüchsigen Wälder, den Schwarzen See, der so heisst, weil sich die dunklen Koniferen in ihm spiegeln, die tiefe Tara-Schlucht. Und das Karstgebirge, das die unheimliche Eigenschaft besitzt, Bergseen und ganze Flüsse zu verschlucken, um sie an anderer Stelle wieder auszuspucken. "Aber die Flüsse, Wälder und Berge hier können die Leute nicht essen", sagt Andri Stanovic, der für die Nationale Tourismusorganisation von Montenegro arbeitet. Die Bergregion brauche dringend mehr Touristen, das sei die einzige Perspektive für die Gegend.


Im kleinen Montenegro verdichtet sich das ganz Grosse

Das weiss auch Darko Bulatovic. Der Steuermann bekommt es direkt am eigenen Leib zu spüren, wenn Besucher fernbleiben und er sein Boot im Schuppen lassen muss. Zwischen September und Mai sucht er sich gleich etwas anderes, denn da kommt niemand. Im Sommer, wenn er Gäste hat, spickt er seine Geschichten deshalb gerne mit Superlativen, um für die vielen Highlights im Hinterland zu werben, für die Montenegro auch steht. Vielleicht erzählen sie es ja weiter, vielleicht kommen dann mehr Touristen: Freunde von Freunden von Freunden, die von der Schönheit des Landes gehört haben. In der abgeschiedenen Bergregion ist das Hörensagen immer noch das wirksamste Mittel, wenn man viele Menschen erreichen will.

Wenn er Gäste hat, spickt der Steuermann seine Geschichten gerne mit Superlativen, um für die vielen Highlights im Hinterland zu werben.

Als lautes Tosen immer näher kommt, erzählt er von der Ljutica. Der Name bedeutet "wütender Fluss", und man glaubt alles sofort, was der Skipper über sie weiss: "Mit 1000 Litern pro Sekunde rauscht die Ljutica in die Tara. Da oben ist ihre Quelle, sie entspringt einem Spuckloch, das wir so nennen, weil es einen unterirdischen Fluss ausspuckt. Ihr Wasser ist so klar, dass ihr es einfach so trinken könnt." Und er fügt an: "Sie ist der kürzeste Fluss in ganz Europa, nur 150 Meter lang - aber kurze Flüsse haben es in sich." In dieser Gegend könne man viele solcher einzigartiger Naturphänomene bestaunen. Ob wir eigentlich wüssten, dass die Schlucht der Tara die tiefste und längste in Europa sei? "1300 Meter tief und 78 Kilometer lang", erklärt Bulatovic. Seit 1980 gehört ihr unterer Teil zum Unesco-Weltnaturerbe.

Mehr als die Hälfte Montenegros liegt auf über 1000 Metern. Das Durmitor-Gebirge wird von den Einheimischen auch "schlafender Riese" genannt. Es gibt sogar die Geschichte, dass Gott diesen Ort in der Genesis schuf, um sich selbst hier zur Ruhe zu legen. Wir könnten auch das höchste Dorf des Balkans besuchen, Mala Crna Gora auf 1800 Metern. Im Winter ist es für sechs Monate eingeschneit und komplett von der Aussenwelt abgeschnitten. Hier lebte bis vor kurzem die älteste Frau Montenegros, eine sogenannte "Virgina", die weit über 100 Jahre alt wurde, wie man sich erzählt.

Eine Frau wird zum Oberhaupt der Familie, wenn ein Mädchen ohne Brüder aufwächst und es daher keine männlichen Erben gibt. Solche Mann-Frauen gibt es in den Ländern des Balkans seit dem Mittelalter, sie kleiden sich traditionell wie Männer, mit Hemd und Wollmütze, bewegen sich wie Männer, jagen wie Männer und gehen in die Kneipe wie Männer. Und sie zeigen sich gerne mit männlichen Statussymbolen: mit grosser Flinte und Zigarrenstummel im Mundwinkel. Sie kümmern sich ihr ganzes Leben lang um Haus und Hof, um Mutter und Schwestern und dürfen den Familienbesitz erben. Sie sind die Hüterinnen der Familientradition. Dafür bezahlen sie einen hohen Preis: Sie heiraten nie und bekommen keine Kinder. In Montenegro soll es heute keine Virginas mehr geben.

Wenn wir von diesem abgelegenen Bergort an die Küste zurückführen, sollten wir die Augen offen halten nach der höchsten Eisenbahnbrücke in Europa, fast 200 Meter über Talgrund, sagte man uns. Ganz in der Nähe werde übrigens die erste Autobahn gebaut, ebenfalls ziemlich hoch. Da dürften wir dann auch das grösste Weinanbaugebiet Europas nicht verpassen, die Plantaze bei Podgorica. Grösser noch als die Bordeaux-Region. Jedenfalls, wenn man nur die unmittelbar zusammenhängende Fläche von 23 Quadratkilometern zählt.

Die Übertreibungen passen nicht so recht zu der bescheidenen Art der Leute. Da sind die Trainingsanzüge und Unterhemden, die besonders Männer gerne und stolz tragen, auch wenn sie in einem feineren Lokal speisen. Da ist das einfache Essen, das ohne viel Schnickschnack serviert wird und aus einfachsten Zutaten besteht: sehr viel Fleisch, ein paar Kartoffeln, Käse, mehr nicht. Da ist das lässige Schulterzucken, wenn Montenegriner lange auf etwas oder jemanden warten müssen. Auch deshalb scheint es wie ein rhetorischer Trick, wenn die Grossartigkeit des kleinen Montenegro gepriesen wird - um mehr Touristen anzulocken.


Mehr Touristen auf die Holzwege

Andererseits ist da auch die Angst. Was, wenn zu viele Besucher kommen, wenn zu viel gebaut wird und sich in zu kurzer Zeit zu viel verändert? Was macht das mit den Leuten, mit ihrer Kultur und mit der Natur? Nachbar Kroatien gibt ein abschreckendes Beispiel, wo sich ein Riesenhotel neben das andere quetscht, die Einheimischen nicht mehr an ihre eigenen Strände gehen können und der Plastikabfall die Inselküsten überspült.

Auch in Montenegro gibt es Orte, wo der Massentourismus bereits Spuren hinterlässt. Was es im Hinterland zu wenig gibt, gibt es an der Küste zu viel: Internationale Unternehmen bauen Jachthäfen und ganze Feriendörfer in die Landschaft hinein. Frauen in Trachten und mit Zöpfen bedienen launische Luxusreisende. Ihre Trachten sollen an das urtümliche, authentische Montenegro erinnern. Allerdings: Solche Kleider gab es hier nie.

Was die Einheimischen haben, ist ihre ursprüngliche Natur: die urwüchsigen Wälder, den Schwarzen See, die tiefe Tara-Schlucht und das Karstgebirge.

Und dennoch: Für das Hinterland ist Tourismus ein Luxusproblem. Erst einmal müssen überhaupt mehr Besucher kommen und die Natur entdecken. Vielen Bewohnern sei gar nicht klar, was für einen Schatz sie da hüteten, erklärt Thomas Wöhrstein, der für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit die Nationalparks berät. "Für das Naturerlebnis gibt es hier nicht so ein ausgeprägtes Bewusstsein wie bei uns in Deutschland", sagt der Geograf. "Die Montenegriner verstehen gar nicht, warum sie in ihrer Freizeit wandern sollten - wenn sie genauso gut das Auto für die Strecke nehmen können", so seine Erfahrung.

Seit vier Jahren wohnt Wöhrstein in der Hauptstadt Podgorica und kann aus der Nähe beobachten, wie manchmal die Gegensätze aufeinandertreffen, wenn Einheimische und Touristen sich begegnen. Immer wieder würden ausländische Wanderer von Bergbewohnern gefragt, ob sie dafür eine Bezahlung erhielten, auf einen Berg zu steigen. "Einem Montenegriner geht es nicht in den Kopf, dass jemand einen Berg besteigt, wenn er kein Schaf oder keine Kuh dort oben verloren hat", erzählt Wöhrstein und veranschaulicht damit, was da manchmal für Welten aufeinanderprallen.

Der Wald ist kein Ort, wo viele Montenegriner freiwillig hingehen. Er ist gefährlich. Wenn sie etwas im Wald zu tun haben, weichen sie niemals vom Weg ab wegen der Schlangen, Insekten und anderen Gekreuchs. Viele haben sich beim Baumfällen und beim Stämmezerkleinern verletzt. Eigentlich ist das ohnehin verboten, aber die Einheimischen holen dennoch ihr Holz aus dem Forst. Wöhrstein beobachtet täglich, wie Transporter und manchmal grosse Laster riesige Holzstämme über die alten Holzwege transportieren. "Bäume, die oft weit über hundert Jahre alt sind", sagt der Geograf und schüttelt traurig den Kopf. Doch in den Bergen heizen die Menschen noch mit dem Hartholz, wie vor hundert Jahren. Strom oder Öl können sie sich nicht leisten.

Mehr Touristen auf diesen Holzwegen würden auch mehr Geld in das Hinterland bringen. So würden die Bewohner vielleicht verstehen, wie existenziell die Bäume für ihre Zukunft sind. Denn die Natur ist das einzige Kapital in den Bergen von Montenegro.


Gut zu wissen

Anreise: Flüge aus der Schweiz gehen nach der Hauptstadt Podgorica und nach Tivat. Über Österreich fahren mehrmals täglich Züge nach Belgrad, von wo es weitergeht nach Podgorica. Ein flächendeckendes Autobusnetz verbindet alle grösseren montenegrinischen Städte miteinander.

Beste Reisezeit: Die Winter am Meer sind mild, in höheren Lagen streng. Wenn im Juli und August die Temperaturen an der Küste bis auf 40 Grad klettern, ist es im Durmitor-Gebirge noch immer frisch.

Allgemeine Informationen: Nationale Tourismusorganisation von Montenegro.
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