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Siebzig verweht - und noch mal verliebt

von Suria Reiche

Steht man auf Traudel Teutloffs Balkon in der Bad Hersfelder Innenstadt, dann ist es, als hätte man die ganze Welt unter sich und wäre dem Himmel ein Stück näher. So ähnlich müssen sie und Tom Walter sich auch gefühlt haben, als sie hier vor etwa zwei Jahren saßen und viel zu viel von dem Sekt tranken, den Tom mitgebracht hatte. Sie gratulierten einander zum Geburtstag ‒ verrückterweise ist es derselbe Tag. Als sie sich dabei in die Augen schauten, merkten sie, dass da mehr war. Tom ist heute 75 Jahre alt, Traudel 74. Um sich zu finden, mussten sie Schicksalsschläge verkraften und weit mehr als ein halbes Leben hinter sich bringen.

Traudel verlor vor etwa neun Jahren ihren Ehemann. In ihrem gemeinsamen Haus hatten sie und er bis dahin eine schöne Zeit erlebt, Kinder großgezogen und auch die Enkel willkommen geheißen. In den letzten Jahren hatte Traudel ihn gepflegt, bis er an den Folgen einer schweren Parkinsonerkrankung gestorben war. „Ich werde mit keinem Mann mehr meine Matratze teilen", hatte Traudel damals zu ihrer Familie gesagt. Da war sie 62. Tom teilte ein ähnliches Schicksal. Auch seine Frau, mit der er vor vielen Jahren von Bremen nach Bad Hersfeld gekommen war, war plötzlich pflegebedürftig geworden, nachdem sie zwei Schlaganfälle erlitten hatte. Irgendwann hatte er seinen Beruf aufgegeben und sie bis zu ihrem Tod gepflegt. Das war zwei Jahre vor der aufregenden Nacht auf Traudels Balkon gewesen.

„Man genießt den Augenblick mehr, es ist bewusster"

Zum ersten Mal gesehen hatten sie sich in einer Gaststätte. Beide besuchten dort Stammtische. Jeder seinen eigenen, aber über eine Tennisfreundin kam Traudel mit Tom im Raucherpavillon ins Gespräch. „Ich fand ihn nett. Aber er war sehr zurückhaltend. Er kommt ebenaus dem Norden, wo man eher kühl ist", erinnert sich Traudel ‒ und Tom muss schmunzeln. Er fand die Frau mit dem braunen Kurzhaarschnitt und den dunklen Augen gleich gut. Als Traudel die Frage, ob es schon im ersten Moment gefunkt hat, verneint, lehnt er sich vor und sagt: „Doch, bei mir schon." Dann schaut er Traudel in die Augen. „Ich hab's dir nie gesagt." Wahrscheinlich dachte es sich Traudel aber schon, als sie ihn bei einem Stammtischbesuch eines Abends allein in der Gaststätte sitzen sah. „Hey, Tom", sagte sie damals, „dein Stammtisch findet doch heute gar nicht statt." Der Mann aus dem Norden tat überrascht, es habe ihm gar keiner davon erzählt. Aber eigentlich war beiden klar, dass Tom es sehr wohl gewusst hatte, aber dennoch gekommen war, um Traudel zu sehen. „Ich hab mich dann zu ihm gesetzt, damit er nicht so allein ist, und wir haben zusammen ein Glas Wein getrunken", erzählt Traudel und wird dabei von Tom immer wieder verliebt angeschaut. An diesem Abend knisterte es bereits zwischen ihnen.

MAN MACHT SICH MEHR GEDANKEN, DASS ES PASSEN SOLL

Beide erinnern sich noch genau an den Tag, an dem Traudel ihren Tom der Familie vorstellte. Es war aufregend, ein bisschen anders, als wenn man seinen Partner in den 20ern mit zu seinen Eltern bringt. „Ich habe in unsere Familiengruppe geschrieben, dass ich einen Überraschungsgast mitbringe", erzählt Traudel. Die Überraschung sei bei ihren Kindern und Enkeln dann auch wirklich groß gewesen. „Das war ein Erlebnis", erinnert sich Tom und erzählt dann davon, dass Traudels Tochter beim Rausgehen zu ihm gesagt habe: „Also, Tom, du bist uns lieb und jederzeit willkommen. Aber nur, solange du meiner Mutter guttust!" Das sei eine Ansage gewesen, sagt er. Seitdem bringe er seiner Traudel jede Woche frische Blumen mit in ihre Wohnung in der Bad Hersfelder Innenstadt. Zurück im Auto habe er zu Traudel gesagt, dass er ein solches Herzklopfen nicht mal gehabt habe, als er die Eltern seiner verstorbenen Frau kennengelernt habe. „Das ist das Alter. Man macht sich einfach mehr Gedanken darum, dass es passen soll." Also ist Verliebtsein im Alter anders als beispielsweise mit 20 oder 30 Jahren? Tom überlegt kurz. „Man genießt den Augenblick mehr, es ist bewusster", sagt er nach einer kurzen Pause. „Ich denke, man ist dankbarer." Und zwar für jede Minute, die man mit dem Menschen an seiner Seite verbringt.

> Fast wie mit 20: „Heute gehört uns die Welt!"

Tom und Traudel haben viele gemeinsame Interessen, fahren Fahrrad und wandern. „Wir haben zwar keine gemeinsame Vergangenheit", sagt Traudel, „aber wir können gut darüber reden und gehen oft gemeinsam zu den Gräbern unserer verstorbenen Partner." Dabei wirft sie einen Blick hinter sich an die Wand, an der zwei Fotos ihres verstorbenen Ehemanns hängen. Geplant hatte sie nie, dass irgendwannmal ein neuer Mann in ihr Leben treten würde. Genauso wenig wie Tom. Es war eher eine Fügung, da sind sie sich einig. An dem Abend auf Traudels Balkon sprachen sie viel über ihre Partner, die sie verloren hatten, und fragten einander, wie sie damit umgingen, allein zu sein ‒ und wie sie damit fertig geworden seien, ihren jeweiligen Partner leiden zu sehen. Vor allem Tom, der im Gegensatz zu Traudel in Bad Hersfeld keine Familie hat, habe das gutgetan, sagt er. „Ich habe 50 Jahre lang als Koch gearbeitet, hatte in der Gastronomie immer Menschen um mich herum. Und dann war ich plötzlich allein." Umso besser habe es getan, auf einen Menschenzu treffen, mit dem er reden konnte, der sich über ähnliche Dinge Gedanken machte und der ihm obendrein auch in anderen Hinsichten gefiel.

EIN GESCHENK GOTTES

An dem Abend im Juni sei alles ganz schnell gegangen und völlig natürlich und logisch gewesen. „Wir haben mehr getrunken, als wir geplant hatten", gibt Traudel lachend zu. „Tom ist dann bei mir geblieben. Es war völlig selbstverständlich, dass wir gemeinsam schlafen gehen. Mit dem Sex ist das natürlich nicht wie bei jungen Menschen. Aber die körperliche Nähe, das Kuscheln tat und tut uns beiden so gut, dass es mir inzwischen schon schwerfällt, mal eine Woche von meinem Mann getrennt zu sein. " Mein Mann, sagt sie und muss dann lachen. „Jetzt sag ich schon mein Mann zu ihm. Na ja, also Tom ist eine ausgesprochene Frohnatur, das begeistert mich an ihm. So etwas erlebe ich in unserem Alter nur sehr selten. Manchmal sage ich, dass er ein Geschenk Gottes ist." Besonders Toms Gelassenheit bewundert Traudel, die von sich selbst sagt, sehr temperamentvoll zu sein. „Wenn wir jetzt nicht zusammenkommen, wann dann?", habe Tom an dem Abend auf Traudels Balkon gefragt. „Und er hatte recht damit", sagt Traudel heute und streicht Tom verliebt über die Schulter.

VOR DIESEM ZEITPUNKT HABE ICH ANGST

Ob sie gemeinsame Ziele haben, so wie das am Anfang einer Beziehung oft der Fall ist, werden sie dann gefragt und schütteln beide den Kopf. „Nein, wir haben doch schon ein schönes Leben", sagen sie. Gemeinsam würden sie jeden Tag genießen, den sie zusammen verbringen, und abends oft sagen: „Hach, war das ein schöner Tag!" Mit über 70 Jahren sehe man in seinem eigenen Umfeld, wie schnell sich etwas verändern könne. Und Tom und Traudel haben es am eigenen Leib erfahren. „Da denke ich schon manchmal dran", gibt Traudel zu. „Leider muss auch von uns beiden einer überbleiben. Es geht ja nicht anders. Vor diesem Zeitpunkt habe ich Angst." Sie hofft, dass keiner von beiden wieder einen Leidensweg durchmachen muss ‒ so wie sie es beide schon erlebt haben Das sei auch einer der Gründe dafür, dass keiner von beiden seine eigene Wohnung aufgeben möchte. „Zusammenziehen wollen wir nicht. Wir beide haben unsere Einrichtung, jeder von uns hat seine persönlichen Gegenstände, warum sollte ich das hier in Traudels Wohnung einbringen?" Und die getrennten Wohnungen haben noch einen Vorteil: Es gibt keinen Streit über das Fernsehprogramm. Traudel schaut gern Talkshows, in denen viel geredet wird, Tom steht eher auf Reiseberichte auf Arte oder Phoenix. Und so kommt es, dass Traudel und Tom sich zwar so gut wie jeden Abend sehen, aber nach dem Frühstück jeder seinen eigenen Weg geht, bevor sie sich dann später wiedersehen, oft zusammen Rummikub spielen und meist in Traudels Wohnung schlafen gehen. „Eine Matratze teile ich aber tatsächlich nicht mit ihm", sagt sie dann und lacht, „wir haben zwei."

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