Es klingt wie im Film: Ein Computer sagt Verbrechen voraus, noch bevor sie geschehen. Was Bürgerrechtler mit Sorge erfüllt, stösst bei der Polizei auf offene Ohren. Doch weiss bis jetzt niemand, wie viel die Software bringt.
Am Schreibtisch von Tilmann Bach beginnt die Zukunft schon heute. Ein Stadtplan auf seinem Bildschirm zeigt ein Karlsruher Wohngebiet, dazwischen blaue, grüne, gelbe und rote Quadrate. Sie zeigen, wo es in der Vergangenheit bereits zu Wohnungseinbrüchen gekommen ist. Viel interessanter findet der Kriminalbeamte aber die rote Linie, die die Quadrate umkreist: "Hier hat der Computer den Beginn einer neuen Einbruchsserie erkannt", erklärt Bach. Doch mit dem Erkennen ist es nicht getan. Precobs, so heisst die Software, prophezeit der Polizei, wo die Einbrecher das nächste Mal zuschlagen werden - und das auf 500 Meter genau.
Einbrecher im VisierPrecobs steht für "Precrime Observation System", eine digitale Kristallkugel für Verbrechen. Der Name weckt Erinnerungen an den Science-Fiction-Thriller "Minority Report", in dem Tom Cruise potenzielle Verbrecher verhaftet, bevor sie ihre Tat begangen haben. "Precrime" heisst dort die Spezialeinheit, die sich um solch heikle Fälle kümmert, und natürlich geht die Sache am Ende nicht gut aus. Tilmann Bach, der beim Landeskriminalamt Baden-Württemberg die Abteilung Predictive Policing leitet, hat diesen Vergleich schon oft gehört. Er selbst empfindet ihn als unpassend, weil die Hollywood-Variante an der Realität vorbeigehe. Überhaupt sei das neue Programm allenfalls "ein Hilfsmittel, mit dem wir besser arbeiten können" - nicht mehr und nicht weniger.
Die Prognose-Software geht bei ihrer Arbeit von der sogenannten Near-Repeat-Theorie aus. Demnach schlagen Täter gerade bei Einbrüchen mehrmals im gleichen Viertel zu. Immerhin haben sie dieses schon ausgekundschaftet und wissen, wo es vielleicht etwas zu holen gibt. Kommt es zu einem Einbruch, geben Polizisten die relevanten Informationen in die Precobs-Datenbank ein: Welches Haus war betroffen? Was wurde gestohlen? Welches Werkzeug kam zum Einsatz? Mithilfe der bereits vorhandenen Daten - Precobs wurde mit den Einbrüchen der vergangenen fünf Jahre gefüttert - sucht das Programm nach einem Muster und versucht den nächsten Tatort zu berechnen. "Das System kann auch nicht mehr als ein Mensch", sagt Bach. "Aber ein Kriminalbeamter brauchte für die gleichen Aufgaben viel länger." In Zeiten von mobilen Banden sei dieser Faktor entscheidend.
In Baden-Württemberg testen die Polizeipräsidien Karlsruhe und Stuttgart die neue Software seit Oktober. 220 000 Euro hat das Innenministerium dafür bereitgestellt. In einem halbjährigen Pilotprojekt wollen die Beamten herausfinden, ob die Kriminalität durch den digitalen Hilfssheriff am Ende wirklich zurückgeht. Dafür arbeiten die Beamten mit Wissenschaftern des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht in Freiburg zusammen. In Bayern ist Precobs schon seit 2014 im Einsatz, allerdings ohne wissenschaftliche Begleitung. Die beteiligten Behörden sind trotzdem überzeugt, dass es funktioniert.
Bis anhin wird die computergestützte Verbrechensvorhersage hauptsächlich bei Wohnungseinbrüchen genutzt. In diesem Bereich ist die Kriminalität in mehreren Bundesländern im vergangenen Jahr stark gestiegen, in Baden-Württemberg etwa um 19,4 Prozent im Vergleich zu 2013. So stossen die Entwickler von Prognose-Software vielerorts auf offene Ohren. Michael Schwer, Gesellschafter des Instituts für musterbasierte Prognosetechnik, das Precobs entwickelt, gibt sich entsprechend selbstbewusst: "In zehn Jahren wird es Predictive Policing an jeder europäischen Polizeidienststelle geben", glaubt Schwer. Wie viel die Firma mit ihren Entwicklungen verdient, verrät der Gesellschafter nicht. Nur so viel: "Die Geschäfte laufen gut. 2016 werden wir neue Mitarbeiter einstellen."
Zurzeit nutzen neben den beiden deutschen Bundesländern die Schweizer Kantone Zürich, Baselland und Aargau die Precobs-Software. Dabei sei die Anwendung längst nicht auf Wohnungseinbrüche beschränkt, betont Schwer: "In Zukunft werden wir das System auf andere Deliktfelder wie Auto- oder Taschendiebstahl erweitern" - eine Aussage, welche die Zürcher Polizei auf Nachfrage bestätigt. Dort teste man bereits, ob sich die Methode auf diese Bereiche ausweiten lasse.
Bei solchen Ankündigungen sträuben sich Datenschützern die Haare. In einem Positionspapier der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder heisst es: "Die Gefahr fehlerhafter Prognosen ist stets immanent - mit erheblichen Auswirkungen auf die dabei in Verdacht geratenen Personen." Precrime-Software sei nur in engen Grenzen verfassungsrechtlich zulässig. Besonders kritisch werde es, wenn auch vermeintlich harmlose persönliche Daten in die Datenbanken einflössen, wie das in den USA geschehe. Dort durchforsten Behörden auch die sozialen Netzwerke, um mutmassliche Verbrecher vor ihrer Tat zu enttarnen. Bürgerrechtler kritisieren, dass besonders häufig Angehörige von Minderheiten einen Warnanruf von der Polizei erhielten - mit der Aufforderung, doch bitte nicht straffällig zu werden.
In Deutschland sind solche Szenarien derzeit nicht denkbar. "Mit personenbezogenen Daten wird nicht gearbeitet", versichert LKA-Mann Bach aus Stuttgart. Auch gebe es keinen Automatismus, wenn der Computer ein gefährdetes Viertel ausspucke. Die Beamten nutzten den Hinweis lediglich als Hilfsmittel bei der täglichen Arbeit. Schlage das Programm Alarm, könne man damit auf verschiedene Weise umgehen, zum Beispiel mit verstärkter Präsenz und verdeckten Ermittlern, um Einbrecher auf frischer Tat zu ertappen - oder eben gar nicht. "Am Ende entscheidet der Polizist", betont Tilmann Bach.
Volker Broo, Leiter des Polizei-Referats beim baden-württembergischen Datenschutzbeauftragten, ist mit der derzeitigen Precobs-Version zufrieden. Er sagt aber auch: "Die ursprüngliche Zusage, dass überhaupt keine persönlichen Daten zum Einsatz kommen, stimmt nicht ganz." Inzwischen habe das Landeskriminalamt aber nachgebessert. "Wir können mit dem Programm leben", sagt Broo. "Früher hat man Stecknadeln benutzt, um Tatorte zu markieren, heute macht das eben der Computer." Georg Huber, IT-Experte am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse am KIT in Karlsruhe, ist skeptischer: "Der Knackpunkt ist die Verknüpfung der Daten", sagt Huber. Auch wenn bei Precobs alles nach Vorschrift laufe, nehme die Zahl der Überwachungssysteme insgesamt immer mehr zu: Wenn die Erkenntnisse von Precobs, Rasterfahndung, Nummernschild-Erfassung und Vorratsdatenspeicherung kombiniert würden, werde der gläserne Bürger Realität.
"Erschreckend" simpelUnd was sagen diejenigen, die das neue System nutzen? André Schulz, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter, betont: "Wir unterstützen alle Technologien, die uns die Arbeit erleichtern." Ob das bei Precobs der Fall sei, könne er derzeit noch nicht beurteilen. Fatal fände es der Kriminalist jedoch, wenn Computerprogramme dazu genutzt würden, Personal abzubauen. "Mit ‹Minority Report› hat das Ganze jedenfalls nichts zu tun", ergänzt Schulz. "Die Programme, die ich kenne, sind erschreckend simpel." Einerseits plädiert er dafür, auch persönliche Daten der Täter in die Profile aufzunehmen. Anderseits räumt er ein, dass es durch die Prognosen zu selbsterfüllenden Prophezeiungen und stigmatisierten Stadtteilen kommen könnte: "Natürlich werden an den Hotspots bestimmte Personen häufiger kontrolliert. Das kann man nicht von der Hand weisen."
Das bayrische Innenministerium feiert Precobs derweil als Erfolg. "In den Prognosegebieten hatten wir weniger Wohnungseinbrüche und mehr Täterfestnahmen", sagte Innenminister Joachim Herrmann Ende Juni. In München sei die Zahl der Einbrüche in den Gebieten, in denen die Polizei nach einer Precobs-Prognose verstärkt Präsenz zeigte, um 42 Prozent zurückgegangen. Das Ministerium schliesst daraus, dass die Software funktioniert. Einen klaren Beweis dafür gibt es aber nicht. Schliesslich wurden in Bayern die Polizeikontrollen insgesamt stark ausgeweitet, um Einbrecher dingfest zu machen. Ein Zusammenhang mit Precobs besteht also nicht zwangsläufig.
Stecknadel oder ProgrammIn der Tat sind belastbare Informationen zur Wirkung von Prognose-Software rar, sieht man von den Werbeversprechen der Hersteller ab. Dies wird auch aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken-Fraktion deutlich (Drucksache 18/3703). Die Abgeordneten wollten wissen, wie, wo und auf welcher Grundlage derartige Programme in Deutschland und im Ausland eingesetzt werden - und mit welcher Wirkung. Erstaunlich oft lautet die Antwort: "Der Bundesregierung liegen darüber keine Informationen vor." Nach grosser Euphorie gegenüber der neuen Technologie klingt das zehnseitige Dokument jedenfalls nicht, eher nach Skepsis.
Diese Meinung teilt man offenbar auch in zahlreichen Bundesländern. Während Hamburg sich im vergangenen Jahr noch aufgeschlossen gegenüber den Prognose-Programmen gezeigt hatte, vermeldet der zuständige Senat nun, dass eine Einführung nicht geplant sei. Der Grund: Es liege bis jetzt keine wissenschaftliche Evaluierung vor. Ähnlich argumentieren die Behörden in Niedersachsen sowie die Bundespolizei und das Bundeskriminalamt, wenngleich man die Entwicklung der Technologie weiterhin verfolge. In Berlin zeigt sich die Innenverwaltung zumindest aufgeschlossen. Eine Entscheidung sei aber noch nicht gefallen, erklärt ein Sprecher.
Nordrhein-Westfalen schlägt derweil einen eigenen Weg ein. Dort hat sich die rot-grüne Landesregierung gegen Precobs und stattdessen für ein Produkt des IBM-Konzerns entschieden. SPSS Modeler heisst das Programm, das nach Angaben des Landeskriminalamts viel mehr kann, als nur Einbrüche vorherzusagen. Um genauere Prognosen abzugeben, flössen weitere Variablen in die Datenbank ein, etwa die Infrastruktur eines Wohngebiets oder das Wetter zur Tatzeit. "Selbstverständlich werden auch bei uns keine persönlichen Daten verarbeitet", versichert eine LKA-Sprecherin. Überhaupt sei die zweijährige Testphase, die wie in Baden-Württemberg wissenschaftlich begleitet wird, absolut ergebnisoffen. Danach entscheidet sich, ob die digitale Kristallkugel weiterhin eingesetzt wird - oder die Stecknadeln weiter im Einsatz bleiben.
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