Am Anfang war Heinrich einfach nur ein Anhalter von Stephan Beuting
Da stand dieser Typ vor mir, Truckerweste, Baseballkäppi, Krücke, Zigarette. "Fahr dein Auto mal hierhin, damit ich mich reinsetzen kann," sagt er. Und mir kommen zwei Gedanken: Der raucht hier in unmittelbarer Nähe der Tankstelle und zweitens: der ist mir einfach unheimlich. Ich könnte also einfach einsteigen und wegfahren und wäre den los. Mache ich aber nicht. Ich höre ihm zu und deshalb beginnt die Geschichte hier. Es ist der 08. September 2014, kurz vor Mitternacht. Heinrich erzählt mir an dem Abend von seinem Leben, von seiner Jugend in der Psychiatrie, von Schlägen und emotionaler Verwahrlosung. Bis er endlich 21 war. Seitdem sei er zwar frei, aber ein Zuhause habe er nicht. 40 Jahre Leben auf der Straße. Heinrich erzählt mir von Knochenkrebs und Knochenschwund. Deswegen muss er sich hinsetzen. Und von seinem Plan nach Zürich zu fahren, zu Dignitas. Schluss machen. Dabei hebt er seine Baseballmütze und zeigt mir eine große Beule am Kopf, das sei ein Gehirntumor, nicht zu operieren, acht Wochen habe er noch. Eine halbe Stunde sitzen wir im Auto, Heinrich erzählt und ich frage mich, wie einer soviel aushalten kann. Danach gehen wir zum Geldautomaten, 50 Euro für eine letzte Nacht in Würde. Dann höre ich nichts mehr von ihm. Bis zu dem Abend, an dem ich Sven Preger die Geschichte erzähle. Sven ist Freund und Kollege und kennt Heinrich. Ihm ist das Gleiche passiert, allerdings elf Monate früher. Wir beschließen diesen Anhalter zu suchen.
Wie findet man einen Anhalter?Anfangs wissen wir nur seinen Namen und die Stadt, in der sein Personalausweis ausgestellt worden ist. Wir ziehen Melderegister-Auskünfte ein, recherchieren im Netz, telefonieren mit Einrichtungen für Wohnungslose. Dignitas in Zürich sagt zwar nichts, aber dafür helfen uns andere. Ein halbes Jahr später haben wir ihn gefunden. Heinrich lebt 350 Kilometer weiter südlich in Großerlach, und er will uns treffen. In den nächsten eineinhalb Jahren verändert sich viel, bei Heinrich und bei uns. Wir erfahren, was damals in den 50er und 60er Jahren für Zustände in den Psychiatrien geherrscht haben. Wie schwer es für jeden einzelnen von den damaligen Patienten ist, nach dieser Zeit ein normales Leben zu führen. Wir erfahren, dass die Opfer von damals bis heute nicht entschädigt worden sind und die Politik gerade erst dabei ist, die Weichen für den Heimkinderfonds II zu stellen, bei dem endlich auch die Psychiatrieopfer mit einbezogen werden sollen.
Wir haben schon früh eine Ahnung davon, dass Heinrichs Leben spannend ist, dass die Entschädigungsfrage eine politische ist. Was wir nicht wissen, wie viel Vertrauensarbeit nötig ist und wie viel Rechercheaufwand in jeder einzelnen von Heinrichs Geschichten steckt. Dabei lernen wir Menschen kennen, die Heinrich zugehört und geholfen haben. Wir lernen, wie Heinrich sich ein System aus Geschichten und Täuschungen aufgebaut hat, um zu überleben. Und wir lernen, dass wir viel besser mit Heinrich reden können, wenn wir vorher an Kaffee und Tabak gedacht haben.