Es gibt sie trotzdem, die kurzen Momente der kindlichen Unbeschwertheit. Immer wenn das Baby auf Hudas Schoß, ihr Neffe, quiekt, huscht ein Lächeln über das Gesicht der 13-Jährigen. Dann wendet sie sich ihm zu, lässt ihn auf und ab wippen, verzieht ihr Gesicht zu Grimassen. Das gemeinsame Spiel wirkt wie ein Stück Normalität in einem Raum, in dem so vieles an Verlust erinnert.
Das Wohnzimmer der Familie Al-Kenno ist bis auf wenige Gegenstände leer. Das einzige Bild an den Wänden zeigt Hudas Schwester Sidra. „Möge sich Gott deiner Seele erbarmen“, steht in arabischer Schrift über dem Bilderrahmen. Das Jenga-Spiel, das Sidra und Huda aus Steinen selbst gebaut hatten und früher stundenlang spielten, gibt es nicht mehr. Es ist dem Schutt zum Opfer gefallen, der am 4. August 2020 den Besitz der Familie unter sich begrub und das Leben der Schwester beendete.
Ein Jahr ist es her, dass im Hafen von Beirut durch ein Feuer mehrere Tonnen Ammoniumnitrat explodierten. Wie viele es genau waren, weiß niemand. Genauso wenig, warum das hochexplosive Salz, das als Düngemittel oder für den Bau von Sprengstoff genutzt wird, dort jahrelang ungesichert lagerte. Die Druckwelle, die um 18.08 Uhr die libanesische Hauptstadt traf, ließ tausende Gebäude einstürzen. Rund 200 Menschen starben, mehr als 6500 wurden verletzt, etwa 300 000 verloren ihr Zuhause.
Viele Artikel, die weltweit über den Vorfall berichteten, wurden in den Tagen danach mit einem bestimmten Foto bebildert. Es zeigt die Stadtautobahn oberhalb des Hafens, die Straße bedeckt mit einer Schicht aus Glassplittern und Geröll. An den Seiten eingestürzte Häuser, am Himmel die dunklen Rauchwolken der Detonation. In der Mitte ein Mann, der ein blutendes Mädchen über seinen Schultern trägt. Das Bild des Fotografen Hassan Ammar wurde vom „Time Magazine“ unter die „Top 10 Photos of 2020“ gewählt. Dann passierte, was jeden Tag in einer informationsüberfluteten Welt passiert: Die Berichterstattung über Beirut ebbte ab, das Foto des anonymen Mädchens geriet in Vergessenheit. Das Mädchen auf dem Foto ist Huda Al-Kenno.
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