Lisa Schütte ist gerade 22 Jahre alt, als sie in Lebensgefahr schwebt: An einem Sonntagabend hat sie unglaubliche Kopfschmerzen. Sie nimmt eine Schmerztablette und legt sich ins Bett.
Am nächsten Morgen kann sie ihren Kopf kaum bewegen, außerdem ist ihr übel. Selbst das Atmen fällt der jungen Frau schwer. Wenige Stunden später fällt Schütte ins Koma. Zum Glück bemerkt ihre Mitbewohnerin die Notsituation und ruft einen Krankenwagen.
Als Lisa Schütte die Augen wieder öffnet, liegt sie auf der Intensivstation des städtischen Krankenhauses in Kassel, um sich herum Schläuche. "Scheiße, was habe ich da getan?", denkt sie.
Schütte ist seit ihrer Kindheit Typ-1-Diabetikerin. Und sie hat seit einigen Jahren Bulimie. Um abzunehmen, betrieb sie sogenanntes Insulin-Purging. Das heißt, sie hörte zeitweise auf, sich ihr Insulin zu spritzen. Ihre Körperzellen konnten den Traubenzucker aus der Nahrung nicht mehr aufnehmen. Ihr Blutzuckerspiegel stieg und stieg, schließlich kam es zur Ketoazidose, einer lebensgefährlichen Übersäuerung.
Stärker gefährdet als gesunde Gleichaltrige
"Junge Frauen mit Diabetes haben ein höheres Risiko, eine Essstörung zu entwickeln als gesunde Gleichaltrige", sagt Stephan Herpertz. Er ist Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des LWL-Universitätsklinikums Bochum und Mitautor der ersten Diabetes- Behandlungsleitlinie zur "Diagnostik und Therapie von Essstörungen". Eine Bulimie mittels Insulin-Purging, also das bewusste Weglassen von Insulin, wie es Schütte betrieben hat, sei dabei besonders häufig, so Herpertz.
Wie oft junge Diabetikerinnen eine Essstörung entwickeln, lässt sich nicht genau sagen. Die Zahlen unterscheiden sich von Studie zu Studie. In einer Untersuchung des Deutschen Diabetes-Zentrum (DDZ) in Düsseldorf aus dem Jahr 2016 zeigte beispielsweise fast jede dritte Frau mit Typ-1-Diabetes ein gestörtes Essverhalten, in einer kanadischen Studie aus dem Jahr 2015 war es mehr als die Hälfte. Bei Jungen und Männern mit Typ-1-Diabetes treten Essstörungen seltener auf.
"Der Typ-1-Diabetes entwickelt sich meist kurz vor oder während der Pubertät, also in einer Zeit, in der Mädchen besonders verletzlich sind", erklärt Herpertz.
Bricht die Stoffwechselstörung aus, nehmen die meisten innerhalb kürzester Zeit ab, weil der Körper die aufgenommene Glukose nicht mehr verarbeitet. "Vielen gibt das ein gutes Gefühl", sagt der Essstörungsexperte, es stärke ihr Selbstbewusstsein.
Die Diabetes-Diagnose ist nicht nur ein Schock, die Insulintherapie bringt den Stoffwechsel wieder ins Gleichgewicht. Die Jugendlichen nehmen zu, was sie vorher abgenommen haben. "Für Mädchen, die ihren Selbstwert in dem Alter stark an ihrem Körperbild festmachen, eine zusätzliche Belastung", sagt Herpertz.
Lisa Schütte, die heute 27 Jahre alt ist, erzählt, dass sie als Kind trotz des Diabetes schlank war. In der Pubertät änderte sich das. Nachts war sie oft unterzuckert, wachte mit Schweißausbrüchen auf. Um dem entgegenzuwirken, aß sie mehr und nahm stark zu. Weil sie sich in ihrem Körper unwohl fühlte, kam sie auf die verheerende Idee mit dem Insulin.
Ständig übers Essen nachdenken müssen
Ein weiteres Problem: Der Diabetes erfordert von den Betroffenen ein permanentes Nachdenken über ihr Essen. Sie müssen ständig Kohlenhydrate berechnen. Eine Pizza Margarita ist für Schütte nicht einfach eine Pizza: Sie ist mittelgroß - also zwischen 24 und 28 Zentimetern -, hat um die 96 Gramm Kohlenhydrate und besteht zu gut einem Drittel aus Fett. "In Gedanken sind Diabetiker im Grunde immer mit Essen beschäftigt", fasst Diabetes-Experte Herpertz zusammen: "Sind sie dann mit sich selbst, mit ihrem Körper unzufrieden, ist die Flucht in ein gestörtes Essverhalten oft nicht mehr fern."
Den Kampf gegen den eigenen Körper kennt auch die 35-jährige Stefanie Blockus. Als der Typ-1-Diabetes bei ihr im Alter von 14 diagnostiziert wurde, kam sie in eine Diabetes-Klinik. "Dort wurde das Essen aufs Milligramm genau abgewogen, Blutzuckerwerte, Insulineinheiten und Körpergewicht feinsäuberlich ins Diabetes-Tagebuch notiert." Plötzlich drehte sich ihr Leben nur noch ums Essen, ihr Gewicht und darum, wie viel Insulin sie sich spritzen musste. "Meine Blutzuckerwerte", sagt sie, "sollten perfekt sein" - auch wegen der Angst vor Folgeschäden.
Zurück zu Hause wurde der Ehrgeiz zum Zwang. "Je weniger Kilos die Waage anzeigte, desto weniger Insulin benötigte ich und desto besser fühlte ich mich", sagt sie. Gab es bei einer Geburtstagsfeier Kuchen, sagte sie: "Ich kann den leider nicht essen. Ihr wisst ja: der Diabetes." Die Stoffwechselkrankheit wurde zur perfekten Ausrede, die Angst vor dem Essen immer größer. Am Ende lag ihr BMI unter 14. Der Drang nach Kontrolle hatte Blockus in die Magersucht getrieben und ihr wurde klar: "So geht das nicht weiter."
Für junge Diabetikerinnen sind Essstörungen besonders gefährlich: Die Sterberate ist weitaus höher als bei Patientinnen, die eine Essstörung, aber keinen Diabetes haben, sagt Herpertz.
Folgeschäden der Bulimie
Lisa Schütte hat heute mit Folgeschäden des Insulin-Purgings zu kämpfen. Ihre Nieren sind nachhaltig geschädigt, ob sie sich jemals wieder erholen, ist ungewiss. Sie muss deswegen Medikamente nehmen.
Schütte macht inzwischen eine Psychotherapie. Die Suche nach einem passenden Therapeuten hat gedauert. Nur wenige kennen sich mit der Kombination Diabetes und Essstörung aus, sagt sie. In ihrer ersten Sitzung musste die 27-Jährige ihrem Therapeuten sogar erklären, wie das mit dem Insulin eigentlich funktioniert.
"Behandelt ein Therapeut eine Diabetikerin mit Essstörung, sollte er sich vorab auf jeden Fall über die Stoffwechselkrankheit informieren", sagt Siobhan Loeper, Oberärztin der Abteilung "Psychosomatische Medizin und Psychotherapie" der Schön Klinik Hamburg Eilbek. Eine spezielle Diabetes-Ausbildung braucht er ihrer Ansicht nach aber nicht.
Bei den Bulimie-Patientinnen ginge es in der Behandlung letztendlich darum, herauszufinden, wie und warum das Insulin-Purging angefangen hat und dass sie lernen, ihren Gemütszustand nicht mehr an ihr Äußeres zu koppeln. Diabetikerinnen mit sehr starker Anorexie müssten hingegen zuerst zunehmen. "Sonst sind viele kognitiv gar nicht in der Lage für eine Psychotherapie", sagt Loeper.
"Das Schreiben hilft mir"
Die Psychotherapie hat Lisa Schütte schon geholfen. "Heute geht es mir gut", sagt sie. Sie studiert, hat einen Freund, kann mit ihrer Familie offen über ihre Bulimie sprechen.
Ganz überwunden hat sie die Essstörung allerdings noch nicht: Sitzt die junge Frau vor einer Pizza oder einem Stück Kuchen, kommt sie bis heute in Versuchung, das Insulin wegzulassen. Sie hat deswegen ihren Freund gebeten, mit darauf zu achten, dass sie ihr Insulin wirklich nimmt. Außerdem hat sie einen Blog gestartet. Er heißt "Lisabetes". Auf ihm erzählt die Studentin von ihrem Diabetes und über ihren Kampf mit der Essstörung. "Das Schreiben hilft mir, den Diabetes aktiv in mein Leben zu integrieren", sagt sie, "und mit dem Insulin-Purging abzuschließen."
Auch Stefanie Blockus hat über ihr Leben mit Diabetes einen Blog gestartet - "Staeffs (er)Leben mit Diabetes". Ihr half vor allem das Studium und ein damit verbundener Wechsel in ein neues Umfeld, aus der Essstörung rauszukommen. An der Fachhochschule fand sie neue Freunde, lernte Kontrolle abzugeben. Zeitweise ging Blockus auch in eine Selbsthilfegruppe. "Die Gruppe zeigte mir, dass ich mit meinen Problemen nicht allein bin", sagt sie. Ehrgeizig ist die junge Frau zwar immer noch, diesen Ehrgeiz steckt sie nun aber in ihren Job als Onlineredakteurin und in ihre Hobbys. An ihr Gewicht denkt sie heute nicht mehr.