Es gibt diese Momente am Ende eines Winters: Das Licht fällt wieder länger auf den Schreibtisch im Home-Office, wo es sich einen Augenblick mit dem nervösen Schatten einer Ackerhummel teilt, vielleicht der ersten des Jahres, aufgescheucht aus dem Pflanzenkübel vor der Fensterscheibe.
Vor knapp 80 Jahren verwandelte der schwedische Schriftsteller Harry Martinson (1904-1978) solche Eindrücke in Literatur. Entstanden ist ein vielseitiges Werk aus Romanen, Lyrik, Reisebeschreibungen und Essays. Während vor allem seine Naturgedichte in Schweden bis heute gelesen werden, ist Martinson im deutschen Sprachraum nahezu unbekannt. Und das, obwohl der Schwede 1974 den Literaturnobelpreis erhielt.
Im Guggolz-Verlag erscheint dieser Tage nun die Essaysammlung „Schwärmer und Schnaken". Sie enthält 45 Texte, die Harry Martinson größtenteils zwischen 1937 und 1939 verfasste. Die Protagonistin der meisten Essays ist die überschäumende Natur eines schwedischen Sommers, die Explosion des Lebens in einer kurzen Phase zwischen Eis und grauer Kälte, wenn endlich alles blüht, alles sirrt und vibriert.
Es sind Texte, für die man sich Zeit nehmen muss. Immer wieder bleibt man hängen, an einem Gedanken, einer Pflanze, einem Insekt. Martinson war bekennender Buddhist und bei der Naturbeobachtung wie beim späteren Schreiben auf der Suche nach der Auflösung im Jetzt.
„Das Gras fächelt im Wind. Der Wiesenkerbel wiegt sich, seine leichten Kronen schweben wie Tüll unter den Insektenwolken, und wohin man auch blickt, steht eine Staude, eine Rispe, sitzt eine sommerblitzende wilde Fliege, brummt eine schwerfällige, tollpatschige Hummel - gleich einem Ringer prallt sie gegen die schwankenden Stauden. Hier unten im Gras, in der Liliputwelt, erweckt die Hummel den Anschein eines gutmütigen, hungrigen Bären."
Den Literaturnobelpreis erhielt Martinson für „ein Werk, das den Tautropfen einfängt und das Weltall spiegelt". Die Auszeichnung war der späte Höhepunkt einer unwahrscheinlichen literarischen Karriere: Von den Eltern verlassen (der Vater stirbt, die Mutter wandert in die USA aus) wachsen Martinson und seine Geschwister als Pflegekinder auf, zur Arbeit gezwungen auf jährlich wechselnden Bauernhöfen im ländlichen Südschweden. Es ist das frühe Ende der Kindheit. Trost bietet die Natur; sie ist das Refugium, der sichere Ort des Jungen - und wird es zeitlebens bleiben. Ein anderer Ort, der Martinson prägte, ist die See. Mit 16 Jahren heuert er als Matrose an, bis er seine Seefahrten sieben Jahre später wegen einer Lungenkrankheit aufgeben muss.
Zwischen diesen beiden Polen bewegte sich das literarische Schaffen Martinsons: der Exotik ferner Horizonte und der Vertrautheit der schwedischen Natur. Dabei romantisiert Martinson die Natur nicht. Sie ist immer auch vergänglich, sie kann grausam sein, sie ist Leben und Überleben, das heißt: Der Tod gehört notwendigerweise zu ihr. Um Blüten werden Luftkriege ausgefochten, Libellen nahen „im starren, rüttelnden Flug von Kampffliegern", etwas fällt, erkaltet und verwest.
Im Hintergrund blitzen immer wieder die Gewalt und Vernichtung des Weltkriegs auf. Meist undeutlich, an manchen Stellen aber auch klar. Etwa wenn Martinson Insekten als Stimme des Gewissens sprechen lässt: „Eine Grabwespe mit einer zerstückelten Prachtfliege in ihren Klauen kann zu uns vom Grashalm predigen. Sie kann sagen: Passt auf, dass ihr dem nicht ähnlich werdet; sprecht mir nach!"
Trotzdem wirken die Essays, denen keine Daten zugeordnet sind, zeitlos. Da ist es passend, dass der letzte Text der Sammlung ausgerechnet den Eintagsfliegen gewidmet ist. Um den seltsamen Tanz ihrer Fortpflanzung zu sehen, schreibt Martinson, „kann man Stunden opfern und doch meinen, es sei kein Opfer gewesen". So ist es auch mit „Schwärmer und Schnaken".
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