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Die Hartz-4-Hackerin

Hartz-4-Sanktionen sind falsch - davon ist Helena Steinhaus überzeugt. Mit ihrem Verein Sanktionsfrei unterstützt sie Hartz-4-Empfänger und sorgt dafür, dass Strafen ins Leere laufen.


Das Schreiben des Jobcenters kommt am 20. des Monats: Leistungseinstellung, das war's, Ende. Am 28. hätte das Amt eigentlich 424 Euro überweisen sollen. Stattdessen wird kein Geld kommen. Warum? Was ist mit Miete, Essen und Trinken? Panik.


Knapp zehn Prozent aller Menschen, die Hartz 4 beziehen, werden jedes Jahr sanktioniert. Oft wird das Geld gekürzt, manchmal komplett gestrichen. Gründe gibt es viele, oft sind es Missverständnisse, oft geht es schnell: Die alleinerziehende Mutter verpasst einen Termin bei der Arbeitsagentur, weil das Kind krank ist. Die Selbstständige ist überfordert, der Langzeitarbeitslose hat den Überblick verloren - und die finanzielle Absicherung bricht weg.

Hartz-4-Sanktionen; ein Leben mit dem Minimum, ein Leben in Angst, dass selbst das nicht reicht. Das darf so nicht sein, findet Helena Steinhaus. Die 32-Jährige hat eine Vision: Sie will das Sozialsystem hacken. Den Druck nehmen, fairer machen. Anreize statt Zwang.

Hartz 4: Sanktionen werden ausgeglichen

Mit dem Verein Sanktionsfrei unterstützt sie Hartz-4-Empfänger, wenn das Jobcenter den Regelsatz kürzt oder streicht. „Wir leisten erste Hilfe." Die Anwälte des Vereins legen Widerspruch gegen die Bescheide der Behörde ein. Und Steinhaus will noch mehr: Die Sanktionen so vieler Menschen wie möglich ausgleichen. Ist genügend Geld im Solidartopf, fließt das gekürzte oder gestrichene Geld vom Konto des Vereins auf das Konto der Betroffenen - schnell und unbürokratisch, ohne Bedingungen, ohne bohrende Fragen.


Die Idee dahinter: Die Unterstützung von Sanktionsfrei nimmt Druck, gibt Halt und das Gefühl, wertgeschätzt zu werden. „Sanktionen bedeuten immer existenzielle Probleme", sagt Steinhaus. Schon eine Kürzung um zehn Prozent sei bei nur 424 Euro ein riesiges Problem.

Über die Webseite des Vereins können Betroffene um Hilfe bitten. Eine Antwort kommt sofort - und so die Sicherheit, ob das fehlende Geld ausgeglichen werden könne, sagt Steinhaus.


„Uns ist wichtig, dass es keine Wartezeit gibt." Dann spricht die 32-Jährige mit den Menschen, „über das, was los ist". Ohne Zwang, ohne Druck - niemand muss reden. Viele tun es doch und erzählen Steinhaus, warum sie sanktioniert werden. „Es gibt Tausende Gründe", erzählt Steinhaus. In den seltensten Fällen würden Tätigkeiten abgelehnt, oft stimme es in der Beziehung der Sachbearbeiter mit ihren "Kunden", wie es so schön heißt, einfach nicht: „Zwischenmenschliche Missverständnisse." Missverständnisse, die Menschen unter das Existenzminimum fallen lassen.


Sanktionsfrei will sie auffangen. Ein Existenzminimum sei schließlich verfassungsmäßig garantiert. Jeden Monat überweist der Verein Hartz-4-Empfängern insgesamt rund 5000 Euro. Mal mehr, mal weniger. Das Geld kommt von privaten Spendern. „Hartzbreaker" heißen sie bei Sanktionsfrei. Knapp 70.000 Euro sind bis Mitte 2019 aus dem Solidartopf geflossen, um Sanktionen auszugleichen.


Nicht immer sind Sacharbeiter schuld an den Sanktionen. Das ist Steinhaus wichtig, sie betont es immer wieder. Schließlich stünden auch die Mitarbeiter der Jobcenter unter Zeitdruck, wüssten oft nicht, was zumutbar sei. Viele ihrer Forderungen seien schlicht unverständlich. Oft sei es eine Verkettung unglücklicher Umstände, die zu den Sanktionen führe, manchmal seien auch die Kunden schwierig. „Aber was resultiert daraus? Müssen wir Druck ausüben und den Menschen den Hahn abdrehen? Dass es den Menschen am Ende noch schlechter geht? Oder bleiben wir offen?" Steinhaus hat sich entschieden, offen zu bleiben. Auch wenn es manchmal schwerfällt. „Schimpfen - das hilft einfach nicht."


Sanktionsfrei gründet sich 2015. Steinhaus und ihre Mitstreiterinnen wollen das bedingungslose Grundeinkommen. „Wir haben uns gefragt: Wo können wir ansetzen?" Die Antwort: Hartz 4. Irgendwann soll jeder ohne Existenzängste leben können, die Beseitigung der Hartz-4-Sanktionen ist bloß der erste Schritt, dem weitere folgen sollen.


Rund 904.000 Sanktionen wurden nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit (BA) im vergangenen Jahr verhängt. 441.000 Menschen waren mindestens einmal betroffen. Oft hatten sie zum Beispiel einen Termin verpasst: Knapp 77 Prozent der Sanktionen fielen auf „Meldeversäumnisse".


Stress, Depressionen, Gefühle von Kontrollverlust - Studien über die negativen Folgen von Sanktionen gibt es viele. „Aber eben keine darüber, was es mit Menschen macht, wenn sie frei von Sanktionsdrohungen leben können", sagt Steinhaus. Gemeinsam mit den Wissenschaftlern des Wuppertaler Instituts für Unternehmensforschung und Organisationspsychologie (Wifop) will sie das ändern. Den nächsten Schritt auf dem Weg zum bedingungslosen Grundeinkommen gehen.


Wertschätzung statt Existenzangst - „Hartzplus" heißt die Studie, die das beweisen soll: 500 Hartz-4-Empfänger wurden im Februar per Zufallsprinzip ausgewählt. 250 erhalten die bedingungslose Absicherung des Vereins, die anderen 250 müssen als Kontrollgruppe ohne Absicherung auskommen. Die Teilnehmer werden regelmäßig befragt: Wie wirkt die Absicherung? Was machen drohende Sanktionen mit dem Selbstwertgefühl? Wie verändert sich das Leben, wenn keine Sanktionen befürchtet werden müssen?


Zwischenergebnisse nennen die Forscher noch nicht. Das Endergebnis soll nicht beeinflusst werden. Nur eins darf Helena Steinhaus nach knapp acht Monaten verraten: Von den 250 Teilnehmern der sogenannten Interventionsgruppe sind bislang 21 sanktioniert worden - sieben davon mehrfach. Das decke sich mit bundesweiten Zahlen, sagt Steinhaus. „Die Studie spiegelt also die Realität."


Steinhaus weiß, wie das Leben mit Hartz 4 ist. Sie weiß, wie es ist, wenn das Amt plötzlich weniger Geld überweist. Steinhaus ist 17 als ihre alleinerziehende Mutter zum ersten Mal Hartz 4 bezieht. 15 Jahre lange hatte sie in Vollzeit als Erzieherin gearbeitet, dann muss sie mit Tochter und Sohn umziehen: Die bisherige Wohnung ist zu groß, zu teuer für Hartz-4-Empfänger. Das prägt Steinhaus noch heute: „Ich habe mitbekommen, was es heißt, mit wenig auszukommen."


Später bezieht Steinhaus selbst einige Monate Unterstützung: Das Studium der Kulturwissenschaften ist zu Ende, aber eine feste Stelle lässt zunächst auf sich warten. Im Jobcenter merkt Steinhaus, die selbst keine Probleme hat über ihre Erfahrungen zu sprechen, wie viele Menschen sich schämen. „Dass Hartz 4 ein schweres Stigma hat." Sie spürt das Machtgefälle zwischen Leistungsbeziehern und Sachbearbeitern. „Das hat mich echt erstaunt und frustriert,", sagt sie, wenn sie auf die Zeit zurückblickt. Je nach Sachbearbeiter seien die Termine schwierig gewesen, „obwohl ich mich von solchen Situationen eigentlich nicht so schnell einschüchtern lasse".


Inzwischen ist der Terminkalender voll. Als Geschäftsführerin von Sanktionsfrei bleibt wenig Zeit: Anfragen von Hartz-4-Empfängern, Verträge, „Papierkram", Termine mit Anwälten, und dazwischen auch mal ein Telefonat mit dem Jobcenter. „Ich habe super viel gelernt in den vergangenen vier Jahren", sagt sie und lacht. Helena Steinhaus hilft gerne, der Job macht Spaß. Trotzdem - all zu lange will sie ihn nicht machen. „In fünf Jahren bin ich hoffentlich arbeitslos." Sie lacht wieder. „Oder in einem anderen Job - weil sich die Sanktionen erledigt haben."

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