Über der Eschersheimer Linde reißen die Wolken auf: Wenige Augenblicke steht sie im Licht, dann ist der Himmel wieder grau - das passt zu einem Montagmorgen. In Eschersheim ebbt der Berufsverkehr langsam ab. Die meisten Berufstätigen sind bereits in den Bürotürmen Frankfurts. Nur wenige Nachzügler schleppen sich noch zur Station Lindenbaum. Minütlich rattern hier U-Bahnen über die Eschersheimer Landstraße - vorbei am Reporterteam, vorbei an der Linde und vorbei an der Trinkhalle am Lindenbaum. In dem Wasserhäuschen kann man alles kaufen, was nötig ist, um einen Montag durchzustehen: Bier, Apfelwein oder Korn, aber auch Süßigkeiten wie Snickers und Gummibärchen.
Isolde Jäger bleibt bei Kaffee und Zigaretten. Sie hat noch eine halbe Stunde Zeit, bis sie auf der Arbeit sein muss. „Ich putze, um meine Altersrente aufzubessern", sagt die 62-Jährige. Sie lebe seit 1989 in der Stadt. „Zwei Tage nach dem Mauerfall bin ich aus Thüringen nach Frankfurt gekommen." In der DDR habe sie in der Gastronomie gearbeitet, in Frankfurt dann 14 Jahre am Fließband gestanden. „Irgendwann hat mein Körper nicht mehr mitgemacht." Insgesamt habe sie 38 Jahre gearbeitet - nicht genug, um von der Rente leben zu können. Beschweren will sie sich nicht: „Ich bin zufrieden, mir geht's ganz gut."
In Preungesheim wohne sie seit 1989 in einer schönen Wohnung. Hier in Frankfurt, sagt sie, lebe man sehr anonym. „Der Zusammenhalt fehlt mir,aber ich habe durchgehalten." Das Leben damals in der DDR sei nicht schlecht gewesen. „Ich hatte eine behütete Kindheit, auch wenn meine Eltern sehr streng waren."
Die Idee einer Rückkehr nach Thüringen habe sie oft gehabt und ebenso oft verworfen: „Ich bin zu alt, um komplett neu anzufangen. Dazu fehlt mir die Kraft." Jetzt müsse sie aber los, die Arbeit warte schließlich nicht. Sie trinkt einen letzten Schluck Kaffee und schwingt sich auf ihr Fahrrad. „Das Putzen und das Fahrradfahren halten mich jung", ruft sie noch und fährt davon.
Isolde Jäger. Foto: christoph boeckheler 0049.170293Geht man von der Eschersheimer Landstraße in die Nebenstraßen, bleibt nicht nur der Straßenlärm zurück. Die Häuser und Straßen liegen ordentlich, aber ohne Leben vor Fotograf und Reporter. Nur wenige Menschen, meist ältere, scheinen sich auf die Straßen zu wagen. Eine der Mutigen ist Irene Kalka. Mit einem Einkaufshelfer der Diakonie ist sie auf dem Weg zum Bioladen Karotte. Seit 27 Jahren lebe sie in Eschersheim. Es sei ein tolles Viertel. „Ich wohne gerne hier", sagt sie. Einst sei hier sogar mal ein Film gedreht worden: „Ein Kurzfilm von einer jungen Filmemacherin - leider habe ich deren Namen vergessen." Schade sei, dass es nur wenige Kontakte unter den Nachbarn gebe. Viele Familien hätten Migrationshintergrund, doch es gebe keine Probleme: „Es ist ein friedliches Nebeneinander."
Unweit des Bioladens wartet James Fannon auf seinen Bus. Auch dem Iren gefällt, dass Frankfurt so „multikulti" ist. Seit fünf Jahren lebt der Baumpfleger in Deutschland. Momentan sei er krankgeschrieben. „Ich habe mir in den Finger geschnitten." Ein Baumpfleger müsse viele Kratzer ertragen. Es sei aber kein gefährlicher Job. „Heute ist man total abgesichert. Es ist nicht wie früher, als wir die Bäume ohne Absicherung hochgeklettert sind." Frankfurt sei eine tolle Stadt. Vorher habe er in London gelebt. „London ist schön, wenn man jung und Single ist."
Das Viertel ist schön. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich die Kleingärten. Klaus-Peter Struetzel über seinen StadtteilDoch seine wilden Jahre seien vorbei. Auch den St. Patricks Day habe er nicht gefeiert. „Ich habe Frau und Kinder", sagt der Ire und lacht. Für seine Familie sei er nach Eschersheim gezogen. „Mir ist es egal, wo der Baum steht", sagt er noch und sprintet seinem Bus hinterher.
Sanderin Tendies steht nur ein paar Meter weiter vor einem gläsernen Bücherschrank. Hier können Bücher abgegeben und mitgenommen werden. „Das ist eine tolle Einrichtung. Eigentlich sind Bücher ja out, aber dieses Bücherregal floriert." Sie gibt fünf Bücher ab, darunter „Russendisko" von Wladimir Kaminer und „Picknick auf dem Eis" von Andrej Kurkow . Gerade lese sie einen Roman von Iwan Gontscharow zur Entschleunigung. „Da wird jeder Wimpernschlag beschrieben. Das ist ganz wunderbar, um zu entspannen. Leider schreibt heute niemand mehr so." Sie stützt sich auf einen bunten Gehstock. „Der ist aus Großbritannien. Ich nehme immer den passenden Stock zu meiner Kleidung." Jetzt gehe sie Sport machen. „Ich bin eine alte Schachtel", lacht sie. Sie nimmt noch ein Heft von „National Geographic" über Wikinger mit. „Wenn ich es gelesen habe, gebe ich es meinen Freunden, und irgendwann landet es wieder im Bücherregal."
Klaus Peter Struetzel. Foto: christoph boeckheler 0049.170293Selbst wenn es ein grauer Montag ist - der Frühlingsanfang ist auch beim Kleingärtnerverein Eschersheim zu spüren. In 163 Parzellen züchten Vereinsmitglieder Tomaten und Karotten und genießen ihren kleinen Garten in der grünen Lunge des Stadtteils. Jetzt, bevor die Sommersaison beginnt, schneiden sie Bäume und Hecken, schreddern die Äste und verstreuen sie als Rindenmulch.
Klaus-Peter Struetzel wohnt in einem Hochhaus in der Nähe des Kleingartenvereins. Von Wochenenden im Garten hält er aber nichts: „Ich fahre, so oft ich kann, durch Hessen." Dafür habe er sich eine Ü65-Karte geholt. Über die Frage, woher er ursprünglich komme, muss er lachen: „Berlin natürlich - das haben die Leute selbst in Brasilien erkannt." Dort habe er 30 Jahre gelebt. „Ich hatte zuerst eine Strandbude am Meer. Dann habe ich Reisegruppen durch den Amazonas geführt - alles in Eigenregie."
Inzwischen sei die Natur um den Amazonas an vielen Orten gefährdet. Schon in den 1980er Jahren habe er wegen Brandrodung monatelang keine Sonne gesehen. „Wenn der Urwald weg ist, ist er weg. Da wächst nichts mehr", schimpft er. Trotzdem würde er gerne wieder zurück nach Brasilien. „Dazu reicht meine Rente leider nicht. Ich habe nur 18 Jahre in Deutschland gearbeitet." Das Leben in Brasilien sei inzwischen schlicht zu teuer. „Außerdem gibt es dort keine soziale Absicherung."
In Frankfurt sei das Leben aber auch nicht schlecht. „Das Viertel ist schön. Wenn ich aus dem Fenster schaue, sehe ich die Kleingärten. Das ist zwar nicht der Amazonas, aber immerhin auch grün."
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