Steffen Greiner

Redakteur & freier Journalist, Berlin

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Die Epilog #7: Giving a Fuck

„Sex ist kein neutrales Thema. Man redet über Sex nicht auf die Art, wie man über das Wetter redet oder darüber, ob man eine Lieblingsfarbe hat: Sex ist interessanter als das Wetter und intimer als eine Lieblingsfarbe“, schreibt Margarete Stokowski in ihrem ja prinzipiell alles richtig sagenden Buch „Untenrum frei“.
Aber: Abgesehen davon, dass ich die Berichte über die zahllosen Katastrophenwetterlagen des letzten Sommers wesentlich spannender finde als die immer gleichen mit verquollenen Augen erzählten Details aus dem Darkroom, mit denen mich meine Mitbewohnerin dienstags zum späten Frühstück unterhalten will: Dass Sex diese Wirkung hat, liegt nicht am Sex. Es liegt an einer historischen Konstellation, deren Teil wir sind. Sex per se zu einem Bereich des Besonderen zu machen, der keine Neutralität kennt, hieße, ihn von der sozialen Umgebung, in der er verhandelt wird, abzukoppeln, ihn in den Bereich des vordiskursiv Sakralen, des Numinosen zu verschieben. Sex als das einzige Andere, zu dem wir eine Beziehung aufbauen können, nachdem wir Gott und allerlei Reinheitsillusionen endlich hinter uns gelassen haben, das ist der Funke eines vormodernen Gedankens in einer spätmodernen Gesellschaft. Ich werde in diesem Text demgegenüber den Fall verteidigen, dass nur ein egaler Sex ein guter Sex sein kann, ein Sex, der eben Sex ist – und keine körperlich gewordene gesellschaftliche Konstellation.
Beweisstück 1: Sex war nicht immer der Motor, der die Welt zum Drehen brachte. Da können Biologist*innen lange in ihren Forumstrollgruben rotieren: In der langen Geschichte menschlichen Miteinanders war Sex die meiste Zeit recht wurscht. Man hatte eben Sex, damit hatte es sich auch, man hatte damit Spaß, man hatte damit keinen Spaß, es war eben so, wie manche gut schlafen und manche eben schlecht. Man musste nicht über Sex reden, man musste sich nicht über Sex identifizieren, über die Art des Sex, über Partner*innen, über Häufigkeit.
Dass Michel Foucault, ohne den ich hier nicht auskomme, argumentiert, die Sexualität sei in ihrer heutigen Form erst im 18. Jahrhundert entstanden, bedeutet allerdings noch lange nicht, wie es häufig interpretiert wurde, früher seien die Menschen in ihrer Sexualität automatisch freier gewesen: sicher nicht. Sicher gab es Übergriffigkeiten, unfreiwilligen Sex in der Ehe, sexuell gelebte Hierarchien. Die Phase der irrelevanten Sexualität, die Sex nicht mehr als Ressource anderer Lebensbereiche betrachtet, war in der Vor- und Frühmoderne sicher nicht gegeben – sie steht erst noch bevor.
Aber diese Phase gibt uns einen Hinweis darauf, wie Sexualität auch betrachtet werden kann: entspannt, souverän und mit Distanz. Sie habe, schreibt etwa Elisabeth Charlotte, Herzogin von Orléans, genannt Liselotte von der Pfalz, im späten 17. Jahrhundert aus Versailles an eine Halbschwester, nie verstanden, was das mit der Erotik solle, sie verstünde den Reiz einfach nicht, aber Menschen, die sich einmal darauf eingelassen hätten, würden wohl großen Gefallen daran finden. Sie spreche, schreibt Leonhard Horowski, der den Brief in seiner Studie „Europa der Könige“ zitiert, über die erotische Liebe „ziemlich genau so, wie heute Nichtraucher über das Rauchen sprechen“.
Natürlich war der Absolutismus furchtbar, aber immerhin konnten König, Königsbruder und jungadelige Herrenentourage miteinander noch anständig Ballett tanzen, ohne sich unablässig in skurrilen Abwehrritualen ihrer Heterosexualität versichern zu müssen, ständig „No Homo!“ und „Bro-mance“ schreiend. Nein, sie klebten sich Schönheitspflästerchen auf die Wange, stolzierten in Strumpfhosen umher und vögelten ihre Mätressen oder eben ihre hochadeligen Kammerdiener oder eben niemanden, weil egal, ohne, dass davon ihr Leben abhing, geschweige denn ihr Rang. Gute Zeiten. Rokoko.
Beweisstück 2, warum Sex irrelevant sein sollte, um das Stichwort nochmal aufzugreifen: „Außerdem kann man dabei nicht rauchen“, vgl.: Eckhard Henscheid, „Die Vollidioten“, Frankfurt a. M. 1978, S. 56.
Beweisstück 3, ebd.: Herr Domingo, der allem Anschein nach davon lebt, Lkws auf der Straße nachzulachen, plant in Eckard Henscheids „historischem Roman aus dem Jahr 1972“, der in Erstauflage 1973 erschienen ist, einen „Verein zur Abschaffung der Sexualität wegen unerträglicher Banalität der dabei anfallenden Vorgänge“. Das ist zu unterstützen, ja bitte, count me in. Kein Mensch sollte sich ohne sinnige Begründung in die Niederungen von Schweiß, Stöhnen und stupider Repetition begeben müssen. Sex, von seinen gesellschaftlichen und subjektivierenden Funktionen befreit, ist unfassbar simpel und banal. Darin besteht ja auch gerade seine Geilheit. Könnten wir ihn doch in Ruhe lassen mit den Bedeutungsüberfrachtungen! [...]