Stefan Rochow

Journalist und Medienunternehmer, Schwerin

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Artikel

Philosophische Anklänge an das Naturrecht

Die Philosophin Hannah Arendt. Foto: IN

Hannah Ahrendt gehört sicherlich zu den großen Außenseitern des 20. Jahrhunderts. Morgen jährt sich der Geburtstag der Denkerin und politischen Theoretikerin zum 110. Mal. Mögen ihre Schriften manchem Zeitgenossen sperrig und schwer verständlich erscheinen: Ihre Gedankenwelt ist heute ebenso aktuell wie zu Ahrendts Lebzeiten. Worüber sich die jüdische Philosophin, die sich zeitlebens dagegen wehrte, eine Philosophin zu sein, in ihren Werken Gedanken macht, das liest sich nicht so nebenbei. Um die Dimension des Denkens von Hannah Ahrendt einordnen zu können, muss man bereit sein, sich auf sie einzulassen. Vor allem muss man aber bereit sein, selber denken zu wollen. Das ist nicht immer populär und erfordert Anstrengungen. Der Einsatz lohnt sich allerdings.


Die Ursprünge politischer Gewalt, die Unbegreiflichkeit des Bösen, die Menschenrechte von politisch Verfolgten und Flüchtlingen, der Sinn der Arbeit - die Themenpalette ist nicht nur breit, sondern vor allem ein Dauerthema. Wer Hannah Ahrendts Schriften in die Hand nimmt, der darf nicht erwarten, hier Ideen zu finden, denen man bedingungslos folgen kann. Ahrendts Ideal war das beherzte Denken „ohne Geländer" und ohne Vorurteile. Sie erwartet geradezu von ihren Lesern, dass diese sich aktiv mit der Welt auseinandersetzen, in der sie leben. Hannah Ahrendts Gedankenwelt folgen zu wollen, heißt immer auch um die Sache zu streiten. Wer lieber in einer Konsenssoße schwimmt, der muss sich geradezu durch Hannah Ahrendt provoziert fühlen.


Ihre eigenen Erfahrungen im totalitären Regime des Nationalsozialismus machen sie zu einer messerscharfen und unkonventionellen Denkerin, die verstehen möchte, wie solche ideologisch aufgeladenen Gesellschaftssysteme entstehen können. In ihrem Hauptwerk „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" kommt sie zum Ergebnis, dass die Vorbedingungen der Vernichtung von Menschengruppen in der vollständigen sozialen und rechtlichen Ausgrenzung der zu verfolgenden Gruppe bestand. Das Recht auf Leben wird erst dann infrage gestellt, wenn die absolute Rechtlosigkeit einer Gruppe eine vollendete Tatsache sei. Um das Entstehen einer rechtlosen Bevölkerungsgruppe zu umschreiben, benutzt sie den Begriff „Vogelfreiheit".


Sie macht sich weiter Gedanken über die Austauschbarkeit der Rollen im Totalitarismus. In ihrer Studie „Eichmann in Jerusalem - Ein Bericht von der Banalität des Bösen", konkretisiert sie ihre Überlegungen dahin, dass in der totalitären Herrschaft die Tendenz wirksam sei, sämtliche Gruppen der Bevölkerung durch Indoktrination und Terror so zu präparieren, dass sie ebenso Vollstrecker wie auch Täter sein können. Begründet wird es, dass totalitäre Herrschaft einen „Mechanismus der unaufhaltsamen Verstärkung des Terrors" schaffe, der die Menschen unbeweglich mache, als „stünden sie und ihre spontanen Bewegungen nur den Prozessen von Natur und Geschichte im Wege". Als Beispiel nennt sie deutsche Konzentrationslager und sowjetische GULAGS. Dabei prägt sie im Zusammenhang mit ihren Beobachtungen während des Eichmann-Prozesses in Jerusalem den Begriff von der „Banalität des Bösen". „Das Beunruhigende an der Person Eichmann war doch gerade, dass er war wie viele und dass diese vielen weder pervers, noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind", schreibt Ahrendt.


Wo ist die Aktualität solcher Erkenntnisse? Der Nationalsozialismus ist 1945 untergegangen und mit dem Zusammenbruch des Kommunismus im Jahre 1989, scheint der Totalitarismus, zumindest in der westlichen Einflusssphäre, ein für alle Mal überwunden zu sein. Das könnte ein Trugschluss sein.


In einer Zeit, die vielen Menschen unübersichtlich erscheint und in denen die Sehnsucht nach einer fiktiven, in sich geschlossenen, restlos stimmigen Gegenwelt auch in Deutschland größer wird, können Ideologien schnell wieder Fuß fassen. Diese zeichnen sich, so Arendt, wesentlich durch zwei totalitäre Elemente aus. Der genannte „Anspruch der totalen Welterklärung", sie „verspricht die totale Erklärung alles geschichtlich sich Ereignende" und zwar totale Erklärung des Vergangenen, totales ein Sichauskennen im Gegenwärtigen und verlässliches Vorhersehen des Zukünftigen."


Hannah Ahrendt fordert das Individuum und schlägt hier, wenn auch nicht bewusst, eine Brücke zum Naturrecht. Papst Benedikt XVI. warnte in seiner Generalaudienz am 16. Juni 2010 vor der Leugnung des Naturrechts. Wörtlich sagte der Papst damals, dass wenn das Naturrecht und die darin enthaltene Verantwortung geleugnet würden, so „öffnet sich auf dramatische Weise der Weg zum ethischen Relativismus auf individueller Ebene und zum Totalitarismus des Staates auf der politischen Ebene". Die Verteidigung der allgemeinen Menschenrechte und die Behauptung der Menschenwürde könnten nur auf der Grundlage des Naturrechts und den sich daraus ergebenden nicht verhandelbaren Werten formuliert werden. Das kann vielleicht genau die Quintessenz aus den Überlegungen Ahrendts sein: Für die Zukunft der Gesellschaft und für eine gesunde Demokratie ist es notwendig, die menschlichen und moralischen Grundwerte neu zu entdecken und die Würde des Menschen zum Ausdruck zu bringen und zu schützen.


In seiner Bundestagsrede im Jahr 2011 sprach Papst Benedikt XVI. von der „Ökologie des Menschen". „Nimm das Recht weg - was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande?", fragte der Heilige Vater damals. Damit brachte er den Grundkonflikt auf den Punkt: Da, wo totalitäre Herrschaft das Naturrecht und die Individualität des Menschen leugnet, da ist die Entmenschlichung des Anderen, bis hin zur physischen Vernichtung des vermeintlichen Gegners, die logische Folge.


Die Angst Hannah Ahrendts davor, dass die Welt unbewohnbar werden könnte, wenn die Menschen ihre Möglichkeit, frei zu handeln, verlieren, weil sie auf ein Mittel zum Zweck reduziert werden, trieb sie an. Angesichts dessen, dass viele Menschen heute wieder in Fundamentalismen fliehen, bleibt Hannah Ahrendts Denken aktuell.

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