3 Abos und 4 Abonnenten
Artikel

Angeklagter greift Opfer an: "Sobald ich raus bin, bau ich mir 'ne Knarre"

Feuerwehrkräfte bergen auf der A7 bei Heidenheim das Fahrzeug, das durch einen Steinwurf verunglückte

Jörg B., 37, windet sich auf seinem Stuhl. Das Käppi tief ins Gesicht gezogen, aber nicht zu tief, so, als genieße er es, im Mittelpunkt zu stehen: RTL, Radio SWR und drei weitere Fernsehteams sind ins Landgericht gekommen, dazu Reporter und Fotografen der örtlichen Presse, interessierte Bürger und Schulklassen.


Heute, am 16. März, neun Uhr, startet der Prozess gegen den Steinewerfer von der A7. Der Fall hat Entsetzen ausgelöst. Und Neugier. Wer ist dieser Mensch, der beinahe eine vierköpfige Familie ausgelöscht hat?

September 2016, Samstagnacht. Familie Öztürk ist mit dem Auto auf der Autobahn 7 bei Giengen auf dem Weg nach Hause. Eine türkische Hochzeit, ein "bleibt doch über Nacht" von den Verwandten. Aber Serdal Öztürk und seine Frau freuen sich auf einen gemütlichen Familien-Sonntag. Sie wollen heim, auf dem Rücksitz die Kinder Yusuf und Halime-Nisa, vier und sechs Jahre alt, sie schlafen.


Zeitgleich macht sich Jörg B. auf den Weg. Später wird er sagen: "Es ist halt so passiert. Der Stein ist einfach gefallen." Aber der Stein ist nicht einfach so gefallen, Jörg B. hat ihn von einer Brücke auf die Autobahn geworfen - so steht es in der Anklageschrift. Sekunden später kollidiert der Wagen der Familie Öztürk mit den Steinbrocken. Das schlingert eine steile Böschung empor und überschlägt sich mehrfach.


Frau gelähmt, Kinder aus dem Auto geschleudert

Als Serdal Öztürk zu sich kommt, sieht er seine Frau neben sich, reglos. Die Rückbank des zerquetschten Wagens ist leer. Wie durch ein Wunder ist den Kindern nichts geschehen. Sie wurden aus dem geschleudert und kamen mit Prellungen davon. Aber seine Frau ist bewusstlos, hat eine Hirnblutung und einen Schädelbasisbruch. Hals- und Brustwirbel sind gebrochen, sie ist zunächst querschnittgelähmt. In den folgenden Stunden wird ihr Fuß amputiert.


Jörg B. lebte damals am Rand einer Kleingartensiedlung, ohne Strom und Wasser in einem Holzverschlag. In der Nähe liegt ein Flugplatz - dort, unter einer Schutzfolie verborgen, lagern Paletten voller zwölf Kilo schweren Betonpflastersteinen. Als die Kriminaltechniker die Spur der Steine nachgehen, entdecken sie auf der Schutzfolie die DNA Jörg B.s. DNA, die die Datenbank des Landeskriminalamtes bereits kennt.

Vier Tage nach der Tat, nur fünf Kilometer vom Tatort entfernt, umzingeln 35 Beamte Jörg B. auf seiner Parzelle. Er flüchtet - ein letztes Aufbegehren. Er kennt das schon mit der . Kleinere und mittelschwere Delikte. Schließlich stellt er sich, gibt zu, den Betonstein von der Brücke geworfen zu haben. Der Staatsanwalt ist bei der Verhaftung vor Ort. Jörg B. soll dabei "nicht gegenwärtig" gewesen sein.


Dass etwas mit ihm nicht stimmt, wird auch am ersten Prozesstag im Ellwangener Landgericht deutlich. Aber erst auf den zweiten Blick. Auf den ersten Blick wirkt er wie ein Hipster. Jungenhaftes Gesicht, der Bart nähert sich dem Vollbart, kariertes Hemd, Jeansjacke. Ein normaler Typ. Aber seine Hände unter dem Tisch liegen in Handschellen und Polizisten bewachen jede seiner Regungen. Er hat offensichtlich ein Zwinkerproblem, ist nervös und flüstert mit seinem Betreuer. Reden kann er also, scheint nicht nur physisch am Geschehen teilzunehmen. Ob er sich auch vor Gericht erklären kann, bezweifelt Anika Kernbach, die Anwältin der Nebenkläger Serdal und Deniz Öztürk. Punkt neun Uhr: der Saal erhebt sich vor dem Gericht, Jörg B. bleibt sitzen, zwinkert.


Jörg B. besitzt Waffen - aber keinen Waffenschein

Schon bevor Jörg B. den Brocken auf die Autobahn warf, hatte er mit der Polizei zu tun. Wegen Beleidigung, Diebstahl und Sachbeschädigung. In Ellwangen wird ihm heute nicht allein der versuchte Mord in vier Fällen mit gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr und gefährlicher Körperverletzung vorgeworfen. Er wird auch des illegalen Waffenbesitzes beschuldigt. Kurz nach Weihnachten fanden Ermittler am nördlichen Rand des Steinbruchs der Firma Schwenk in Heidenheim sein geheimes Waffenversteck Dort verwahrte er eine Walther P88. Er hatte die Pistole zu einer scharfen Waffe umgebaut. Ein voll funktionsfähiger sechsläufiger Schussapparat sowie ein selbst hergestellter sechsschüssiger Revolver lagen daneben. Jörg B. besitzt keinen Waffenschein.


In einem Gutachten aus dem Jahr 2013 steht, dass Jörg B. an einer "atypischen undifferenzierten Schizophrenie" leide. Er empfinde eine "existenzielle Bedrohung" und baue sich darum "Hilfswaffen, um sich gegen die böse Welt zu verteidigen". Doch es gehe ihm nicht darum, "andere anzugreifen oder zu gefährden". Schon in seinem Blick liegt etwas Kämpferisches, ein ich-gegen-den-bösen-Rest-der-Welt. Sein Blick huscht über die Gesichter im Saal, versucht einzuordnen. Wenn er seinen Bart zwirbelt, aus Nervosität, oder aus Langeweile, sieht man seine Hände. Fleischerhände, Bauarbeiterhände. Sie stecken nicht mehr in Handschellen, weil er versprochen hat, sich korrekt zu verhalten.

9.07 Uhr: der Staatsanwalt verliest die Anklageschrift. Es heißt, Jörg B. habe versucht, vier Menschen heimtückisch zu ermorden. Von "seelischer Abartigkeit" ist die Rede. Jörg B. guckt fast trotzig in den Saal. Dann wird das Wort an ihn gerichtet: "Haben Sie sich schon Gedanken gemacht, ob Sie sich verteidigen wollen?", fragt der Vorsitzende Richter Gerhard Ilg. Jörg B. setzt an zu erklären, stoppt sich kurz darauf selbst mitten im Satz, ein Blick vom Verteidiger, dann sagt Jörg B.: "Keine Angabe."


"Sobald ich raus bin, bau ich mir 'ne Knarre"

Seit November befindet er sich in einer psychiatrischen Klinik. Seit September besucht Serdal Öztürks jeden Tag seine Frau im Krankenhaus, am Wochenende kommen die Kinder mit. Das Ehepaar wird im Prozess als Nebenkläger dabei sein. Heute, am ersten Prozesstag, sieht Serdal Öztürk den Angeklagten zum ersten Mal. Vorsitzender Richter Ilg sagt: "Regen Sie sich nicht auf, ist eine schwere Sache heute, aber Sie schaffen das."

10.02 Uhr. Serdal Öztürk fängt an, die Fragen, die ihm gestellt werden, nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten. "Ich erinnere mich an jede einzelne Sekunde", sagt er mit einem Seitenblick auf Jörg B. "Woher soll man auch wissen, dass da ein Verrückter auf der Brücke steht und Steine wirft." Ein Raunen geht durch den Saal, als Jörg B. nicht länger an sich halten kann. "Sobald ich raus bin, bau ich mir 'ne Knarre und ...", Seine Drohung geht im lärmenden Saal unter, er stammelt weiter etwas von Schusswaffen - von weit hinten schaltet sich Serdal Öztürks Bruder ein, der kurz vorher zum Unfall vernommen wurde. Er ist aufgebracht, steht auf: "Kommst du überhaupt hier raus? Denkst du, dass du überhaupt jemals hier rauskommst?" Jörg B. ruft: "Ich bin für deinen Unfall nicht verantwortlich, ich kann nichts dafür, wenn du da lang fährst."


Richter Ilg muss die Situation entschärfen, Jörg B. werden die Handschellen wieder angelegt, er wird verwarnt. Serdal Öztürks Bruder muss sich woanders hinsetzen. Ein Anwalt setzt sich in das Sichtfeld zwischen Serdal Öztürk und Jörg B. Die Vernehmung geht weiter als wäre nie etwas gewesen.

"Wie oft nehmen Sie derzeit Schmerztabletten?", fragt der Richter.

"Zweimal am Tag, Ibu 600", sagt Serdal Öztürk.

"Und wie geht es Ihnen psychisch?"

"Psychisch kaputt."

"Und ihre Familie?"

"Kaputt. Und von dem da will ich vorerst gar nichts mehr wissen", eine Kopfbewegung in Jörg B.s Richtung. Die Mundwinkel des Angeklagten zucken wie nach einem Lausbubenstreich. Etwas belustigt ihn ungemein. Serdal Öztürk schläft seit dem Unfall im Kinderzimmer. Im Ehebett ohne seine Frau zu liegen erträgt er nicht.


Deniz Öztürk weint seit dem Unfall jede Nacht

Deniz Öztürk wird im Rollstuhl hereingefahren. Ihr Mann wirkt mitgenommen von der Konfrontation mit Jörg B. Der wurde in den hinteren Teil des Saals verfrachtet, Deniz Öztürk wollte ihn nicht sehen. Sie spricht türkisch, darf direkt neben ihrem Mann und der Übersetzerin sitzen, als sie vernommen wird. Ihr Leben sei untergegangen. Sie spüre weder Wärme noch Kälte am ganzen Körper, auch nicht, wenn sie duscht. Die Phantomschmerzen sind die schlimmsten, sagt sie. Ihr Unterschenkel musste amputiert werden. Bis zu zwanzig Tabletten schlucke sie täglich. Wenn die Kinder kämen, sei sie stark. Aber sobald sie weg sind, weine sie die ganze Nacht. Serdal Öztürk weint auch. Leise neben seiner Frau.

Sechs Verhandlungstage hat die Schwurgerichtskammer bis Mitte April angesetzt, Tag eins ist für das Ehepaar Öztürk überstanden. Danach will Serdal Öztürk wieder auf den Gabelstapler steigen, trotz Knieschmerzen, will wieder arbeiten, sich ablenken.

37 Zeugen und vier Sachverständige sind für die nächsten Verhandlungstage geladen. Besonderes Gewicht wird der Einschätzung eines Psychiaters zufallen. Er muss klären, ob Jörg B. schuldfähig war.

Zum Original