Oben am Fenster prangt das Parteilogo, darunter hängen zwei provisorische Schilder: "Schaufenster bespucken ist keine Lösung! Es ist einfach nur anstandslos und ekelig!"
Das Abgeordnetenbüro von Katja Meier, Spitzenkandidatin der Grünen in Sachsen, liegt mitten in Pirna, einer Kleinstadt am Rande der Sächsischen Schweiz. Mehrfach schon mussten sie Speichelreste von den Scheiben wischen, jetzt appelliert man an die Vernunft der Leute. "Aber immer noch besser jemand spuckt an die Scheibe, als dass jemand sie einwirft", sagt Hannes Merz, Mitglied im örtlichen Grünen-Kreisverband. Auch das ist schon vorgekommen.
Der Osten ist für die Grünen kein einfaches Terrain. Immer noch - auch wenn sich gerade einiges tut. Lange begegnete die große Mehrheit der Menschen in den neuen Bundesländern der Partei bestenfalls mit Gleichgültigkeit. Grüne Kommunalpolitik fand in weiten Teilen nicht statt, in manchen Landesparlamenten waren die Grünen jahrelang gar nicht vertreten oder schafften es gerade so über die Fünfprozenthürde.
Doch jetzt, vor den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen am 1. September, ist die Stimmung eine andere: "Inzwischen ist nicht mehr die Frage, ob wir in den Landtag einziehen, sondern ob wir ein zweistelliges Ergebnis schaffen", sagt Hannes Merz.
Bundesweit sonnen sich die Grünen seit Monaten im Umfragehoch, und es sieht ganz so aus, als mache die Erfolgswelle auch vor der einstigen Problemzone der Grünen nicht halt. Bei der Europawahl im Mai, als die Partei bundesweit mit 20,5 Prozent zweitstärkste Kraft hinter der Union wurde, legte sie auch im Osten kräftig zu, ebenso bei den zeitgleich stattfindenden Kommunalwahlen.
Bei der Landtagswahl in Sachsen könnten die Grünen ihr Ergebnis von 2014 nun mehr als verdoppeln, Meinungsforscher sehen sie bei zwölf Prozent. In Brandenburg dürfte es sogar noch deutlich mehr werden, es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass die Grünen künftig die Ministerpräsidentin stellen.
Wolfgang Freese ist einer derjenigen, die vom grünen Aufschwung Ost profitieren könnten. Freese ist Direktkandidat der Grünen im Brandenburger Landkreis Ostprignitz-Ruppin, und laut einer Prognose von election.de hat er durchaus Chancen, seinen Wahlkreis zu gewinnen. Auch in anderen Wahlkreisen könnten Parteifreunde vorne liegen. Es wäre eine Premiere - noch nie ist ein Grüner in den neuen Ländern per Direktmandat in den Landtag eingezogen.
An einem Vormittag im Juli steht Freese auf dem Marktplatz von Neuruppin, zusammen mit drei Helfern verteilt er Flyer, Luftballons, Gummibärchen. Noch ist es im Schatten angenehm, später sollen es wieder über 30 Grad werden. Ob die immer heißeren Sommer mitverantwortlich dafür sind, dass die Grünen auch im Osten mehr Stimmen bekommen? "Ich denke schon, dass die Leute durch die Hitze und Dürre in diesem und letztem Jahr merken: Irgendwas muss am Klimawandel dran sein", sagt Freese. Und der Klimawandel sei eben Kernthema der Grünen.
Freese sitzt seit der Wende im Kreistag, bald sind es 30 Jahre. Auch als die Grünen Ende der Neunzigerjahre in Brandenburg unter zwei Prozent lagen, machte er weiter seine Politik. Eigentlich sei er aber nie der typische Grüne gewesen, sagt Freese über sich selbst. In der Wendezeit engagierte er sich im Neuen Forum, das im Bündnis 90 und schließlich in der Partei Bündnis 90/Die Grünen aufging. Ein Teil der Parteiwurzeln liegt also auch in den Bürgerrechtsbewegungen der DDR. Doch während die Grünen nach der Wende in weiten Teilen der alten Bundesrepublik solide Ergebnisse erzielten, fiel es ihnen im Osten schwer, Fuß zu fassen.
"Vor fünf Jahren waren die Grünen praktisch noch eine Westpartei",sagt Hannes Merz. Die Partei habe sich lange vor allem auf jene Regionen konzentriert, in denen sie erfolgreich war. "Und das war halt nicht der Osten."
Merz, der in der Sächsischen Schweiz für die Grünen aktiv ist, weiß, wie es sich anfühlt, auf verlorenem Posten zu stehen. Bei den Bundestagswahlen 2017 erhielt die AfD mit über 35 Prozent im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge ihr bundesweit bestes Ergebnis, Frauke Petry holte das Direktmandat. Die Grünen kamen gerade einmal auf drei Prozent.
Ines Kummer war damals schon Direktkandidatin, so wie jetzt wieder zur Landtagswahl. Im Gegensatz zu Parteifreund Freese in Brandenburg darf sie sich keine Hoffnungen machen, aber auch sie spürt: "Der Zuspruch, den wir bekommen, ist schon deutlich gewachsen."
Dieser Zuspruch bedeutet für die Partei im Osten aber auch neue Herausforderungen. "Die Fläche der Sächsischen Schweiz ist größer als die Fläche von Berlin und Hamburg zusammen. Trotzdem müssen wir hier mit einem Bruchteil der Mitglieder Wahlkampf machen", sagt Kummer.
Wie an vielen Orten im Osten ist auch der Kreisverband in der Sächsischen Schweiz in den letzten zwei Jahren zwar deutlich gewachsen. Trotzdem umfasst er bisher nur 81 Personen. In vielen Gemeinden gebe es immer noch kaum oder gar keine Mitglieder. "Unter diesen Bedingungen Wahlkampf zu machen, ist nicht leicht."
Aber es kommt Hilfe von dort, wo die Partei besser aufgestellt ist: aus dem Westen. Mitglieder aus den alten Bundesländern reisen in die Wahlkampfregionen, um dort beim Plakatieren, Flyer verteilen oder bei Veranstaltungen auszuhelfen. "Ein solches Ausmaß an Hilfe gab es bisher nie", sagt Kummer. Auch die Parteiprominenz wirbt wie selten zuvor: Die Chefs Annalena Baerbock und Robert Habeck sind den ganzen August in Brandenburg und Sachsen unterwegs.
Hält die Euphorie nach der Wahl an? Michael Lühmann, der an der Uni Göttingen zur politischen Kultur im Osten forscht, sieht längerfristige Erfolgschancen für die Grünen: "Jüngere Generationen sind in einem vereinten Deutschland aufgewachsen. Für sie spielen daher auch ganz andere Themen eine Rolle." Dieses Auflösen eines Ost-West-Denkens spiele den Grünen in die Hände. "Vielleicht ist gerade jetzt Zeit für eine Partei, die nicht in den alten Ostkämpfen steckt."
Zudem nützt ausgerechnet die Stärke der AfD wohl auch den Grünen. "Die Maximalaussage gegen die AfD ist derzeit, die Grünen zu wählen", sagt Politikwissenschaftler Lühmann. Gerade für die bürgerliche Mitte seien die Grünen eher eine Alternative als die Linke. Nur einhegen können auch gestärkte Grüne die Rechtspopulisten im Osten nicht. Umfragen sehen die AfD in Brandenburg und Sachsen über 20 Prozent.
Dass in der Sächsischen Schweiz weit mehr Menschen mit der AfD als mit ihrer Partei sympathisieren, erleben die Grünen auch im Straßenwahlkampf in Pirna. Eine Frau gibt den Flyer zurück, als sie sieht, dass er von wem er ist. Ein Passant spottet, die Grünen seien eine "Blabla-Partei mit nichts dahinter", ein anderer winkt mit den Worten "ich wähle blau" ab. Die Anfeindungen seien auf der einen Seite heftiger geworden, sagt Wahlkämpfer Merz. "Auf der anderen Seite merkt man aber schon, dass auch mehr Leute Interesse zeigen."
Auch in Neuruppin sind die Grünen nach ihrer Werbeaktion auf dem Marktplatz zufrieden. Einige Flyer sind sie losgeworden, niemand von ihnen wurde beleidigt - auch hier keine Selbstverständlichkeit. Früher, erzählt Wolfgang Freese am Ende des Wahlkampfeinsatzes, hätten die Leute oft zu ihm gesagt: "Ich wähle dich, obwohl du ein Grüner bist." Inzwischen wird aber selbst hier aus dem obwohl immer häufiger ein weil.