Der Mercado de Liniers
in Buenos Aires ist der größte Viehmarkt seiner Art – und ein Gradmesser
für den Zustand der Wirtschaft im Land. Besuch einer ungewöhnlichen Welt.
Im kühlen Milchmannsmorgengrauen gleitet das Taxi zwischen Last- und Lieferwagen auf der vierspurigen Avenida Lisandro de la Torre durch Mataderos, ein Arbeiter- und Industrieviertel im Westen von Buenos Aires, vorbei an Schuppen, Lagerhallen, einstöckigen Häusern. Es ist halb acht, als wir linker Hand ein zweistöckiges, rosafarben und weiß gestrichenes Gebäude mit einem Bogengang passieren. Die ganze Nacht über hatte es geregnet.
Der Fahrer schwingt den Wagen auf einen halbkreisförmigen Platz und kommt einige Meter vor einem schmiedeeisernen Tor und einer geschlossenen Schranke zum Stehen: Dahinter öffnet sich ein Parkplatz, aber nirgendwo ist ein Schild oder ein Hinweiszeichen zu sehen oder auch nur ein Anhaltspunkt zu finden, um welchen Ort es sich hier handelt und welchen Namen er trägt. Nur eine Hausnummer, montiert an einem der Pfeiler: 2406.
Ich melde mich im Pförtnerhäuschen, und eine Mitarbeiterin führt mich zwischen den geparkten Autos hindurch auf einen breiten Weg. Das Erste, was man hört, ist das Klackern von Pferdehufen auf dem hie und da mit Schlamm bedeckten Zementboden, und man vernimmt diese kurzen, lauten, scharfen Männerpfiffe; dann, etwas weiter entfernt, erklingt das unregelmäßige Läuten einer offenbar von Hand geschlagenen Glocke.
Es ist der Ruf zur ersten Versteigerung des Tages, auf einem der traditionsreichsten Handelsplätze dieser Art, dem Mercado de Liniers: des größten Viehmarktes der Welt. Hier werden die Rinder aus der Pampa über Mittelsmänner verkauft, bevor man sie in die Schlachthäuser bringt und ihr Fleisch zu Steaks verarbeitet, die in der ganzen Welt für ihren Geschmack und ihre Güte gerühmt werden.
Der Mercado de Liniers ist ein ungewöhnlicher Markt, vor 115 Jahren als Staatsbetrieb an dieser Stelle noch auf freiem Feld angesiedelt und von der wachsenden Stadt nach und nach umschlossen wie eine Insel von der Flut, wie eine Lichtung von Bäumen bedrängt und dann aus dem Blickfeld verschwunden und schließlich, auch der bisweilen fliehenden Rinder wegen, hinter einer Mauer ganz verborgen.
Auf Besucher, Händler, Einkäufer und Viehtreiber gleichermaßen wirkt der Mercado de Liniers wie ein Ort aus einer Zeit, die keine Uhren und Kalender kennt, und einer Welt, die auf keiner Karte verzeichnet ist. Der Markt ist wie ein Dorf, das in der Hauptstadt mit ihren mehr als 13 Millionen Einwohnern vergessen wurde.
Und es ist eine Welt der Männer, die sich mit Namen grüßen, der Gauchos, Viehhirten zu Pferd, die Baskenmützen und Lederstiefel tragen.
Orlando Alegre hat sich an diesem Morgen allerdings für blaue Gummistiefel entschieden, wofür er sich sogleich entschuldigt: Sonst trage er die ja nicht, aber wegen des Drecks nach dem Regen der vergangenen Tage ...
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Zuerst erschienen in Bilanz 07/16.
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