Sophia Boddenberg

Freie Journalistin, Santiago de Chile

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Artikel

Chile - Wald und Gewalt

Freiheit statt Lachszucht: Protestierender in Valdivia, Chile Foto: Fernando Lavoz/Zuma Press/Imago

Liberar al mapuche por luchar", rufen gut 50 Chilenen bewaffneten Polizisten entgegen, die sich vor einem Absperrgitter aufgestellt haben: „Befreit die Mapuche, die kämpfen." Die Beamten sind mit GoPro-Kameras ausgestattet und blockieren in der Stadt Cañete die Straße zum Gericht, in dem der „Fall Cuyinpalihue" verhandelt wird. Acht Mapuche sind angeklagt, Feuer auf dem Grundstück eines Forstunternehmens gelegt zu haben. Freunde und Angehörige der Angeklagten, dazu etliche Journalisten wollen den Prozess direkt verfolgen, doch die Polizei lässt niemanden passieren.

Cañete liegt gut 600 Kilometer südlich von der Hauptstadt Santiago. In dieser Gegend besiegten Ende 1553 die Mapuche im Arauco-Krieg spanische Truppen bei Fort Tucapel und töteten den Konquistadoren Pedro de Valdivia, damals Gouverneur Chiles. Vom Mythos dieses Sieges zehren die Mapuche (etwa 1,5 Millionen Menschen und damit zehn Prozent der Bevölkerung) bis heute. Wer zum größten indigenen Volk Chiles gehört, lebt häufig in der Araucanía-Region im Süden. Die Mapuche gelten als eine der kämpferischsten Gemeinschaften Lateinamerikas. Kaum jemand hat sich einst so lange gegen die spanischen Eroberer behaupten können. Mapuche heißt in der Sprache Mapudungun „Menschen der Erde". Und diese verlangen seit Jahren vom chilenischen Staat, dass er ihnen angestammte Territorien zurückgibt. Solange das nicht geschieht, sind brennende Trucks von Forstunternehmen und versperrte Straßen Alltag in der Araucanía-Region.

„Staatsanwalt Yañez ist korrupt und rassistisch", steht in schwarzen und roten Buchstaben auf einem weißen Bettlaken, das an einem polizeilichen Absperrgitter in Cañete hängt. Doch aller Protest verpufft, die Angeklagten im „Fall Cuyinpalihue" werden schuldig gesprochen. Das sei ein politisch motiviertes Urteil, meint Anwalt Nelson Miranda, man werde natürlich in Berufung gehen. Und Patricia Troncoso, eine Mapuche-Aktivistin, ergänzt: „Dieses Gericht steht unter dem Einfluss der großen Forstbetriebe. Es wurden Beweise gefälscht, und es gab willkürliche Verhaftungen. Von Menschenrechten kann keine Rede sein."

Mord an Großgrundbesitzern

Derzeit werden viele Mapuche monatelang ohne klare Beweise in Untersuchungshaft gehalten. Dies erlaubt das chilenische „Anti-Terror-Gesetz", das 1984 während der Diktatur des Generals Pinochet erlassen wurde, um Gegner auszuschalten. Danach ist eine Straftat ein Terrorakt, „wenn sie begangen wird, um in der Bevölkerung Angst zu verbreiten". Das Gesetz legitimiert Aussagen anonymer Zeugen, verbietet es Verteidigern, in den ersten sechs Monaten eines Verfahrens die Ermittlungsakten einzusehen, und lässt bei bestimmten Tatbeständen verschärfte Strafen zu. Zudem dürfen Angeklagte bis zu zwei Jahre ohne Gerichtsurteil inhaftiert bleiben. „Das Gesetz widerspricht internationalen Standards", sagt Ana Piquer von Amnesty International Chile. Als die Sozialistin Michelle Bachelet 2014 Präsidentin wurde, versprach sie eine Novellierung, scheiterte jedoch am Widerstand konservativer Politiker.

Im Moment wird der „Fall Luchsinger-MacKay" unter Verweis auf das Anti-Terror-Gesetz verhandelt. Elf Mapuche sind beschuldigt, am 4. Januar 2013 einen Brandanschlag auf das Haus des Großagrariers Werner Luchsinger und seiner Frau Vivian MacKay verübt zu haben. Das Ehepaar kam in den Flammen um. Ein Terrorakt, sagen die Ankläger. Vorfahren der Luchsingers waren im 19. Jahrhundert aus der Schweiz nach Chile eingewandert, um die Araucanía-Region landwirtschaftlich zu erschließen. Jorge Luchsinger, ein Cousin des Toten, hat in einem Interview mit der Zeitschrift Qué Pasa die Mapuche als „faul, arm, kriminell und ohne intellektuelle Fähigkeiten" bezeichnet.

„Liberar a la machi por luchar" (Befreit die Machi, die kämpfen), wird beim Protestmarsch durch die Straßen von Temuco, der Hauptstadt der Araucanía-Region, gerufen, als Ende August der Luchsinger-MacKay-Prozess beginnt. Eine Machi gilt als spirituelle Autorität des Mapuche-Volkes. In diesem Fall ist damit Francisca Linconao gemeint, die berühmteste Machi in Chile und eine der Angeklagten im Luchsinger-MacKay-Prozess.

Linconao ist 60 Jahre alt, sie streitet seit langem für den Erhalt der Wälder und die Rechte der Mapuche. Vor neun Jahren gewann sie einen Prozess gegen den Holzbetrieb Palermo Limitada, der in ihrer Gemeinde den Wald rodete. Sie hatte sich dabei auf die Konvention ILO 169 berufen, ein Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf, das der chilenische Staat kurz zuvor ratifiziert hatte. Es sah vor, den indigenen Völkern zu helfen, ihre Identität, Sprache und Religion zu bewahren. Francisca Linconao fühlte sich durch die Firma nicht zuletzt in der Ausübung ihrer spirituellen Rolle als Machi eingeschränkt.

„Das war eine Zäsur. Francisca war die erste Frau des Mapuche-Volkes, die einen Gerichtsprozess gegen ein Unternehmen gewann und so einen heiligen Ort beschützen konnte. Damit aber war sie so gut wie vogelfrei, stellte sie doch eine Bedrohung für den Staat und die Forstunternehmen dar", sagt Ingrid Conejeros, Sprecherin von Francisca Linconao. Im Prozess wurden bisher keine klaren Beweise gegen die Angeklagte vorgelegt, so dass es einen Freispruch geben müsste, meint mit José Luis Correa einer der Anwälte im Fall Luchsinger-MacKay. Nur gehe es bei diesem Verfahren nicht nur um Schuld oder Unschuld der Angeklagten, sondern um die nicht zu rechtfertigende Anwendung des Anti-Terror-Gesetzes. „Ein Brand, bei dem zwei Menschen sterben, ist kein Terroranschlag. Dafür müsste laut Gesetz nachgewiesen werden, dass es die Absicht der Täter war, Terror zu verbreiten. Und das kann nicht nachgewiesen werden. Dafür müsste man in die Köpfe der Täter sehen können", so Correa. Auf das Anti-Terror-Gesetz zurückzugreifen, heiße eine Inszenierung zu betreiben, um den Mapuche zu schaden.

Brennende Kirchen

Um den Grundkonflikt zu verstehen, muss man wissen, was der chilenische Staat den Mapuche vorwirft: Indem sie ihr ursprüngliches Gebiete zurückfordern, würden sie sich gegen die Verfassung und somit auch gegen die chilenische Nation wenden. Dies rechtfertigt es aus Sicht der Behörden, die Aufrührer wie „Terroristen" zu behandeln. Dabei wird ausgeblendet, wie weit dieser Landkonflikt in die Geschichte zurückreicht. Da die spanischen Eroberer die Mapuche nicht besiegen konnten, verhandelten sie und überließen ihnen 1641 mit dem Vertrag von Quillín ein Territorium von etwa zehn Millionen Hektar.

Mit der Unabhängigkeit Chiles im Jahr 1810 stellte sich heraus, dass der neu gegründete Staat dieses Agreement nicht anerkannte, stattdessen Truppen in die Araucanía-Region schickte, um Teile der indigenen Gebiete zu übernehmen und an chilenische oder ausländische Siedler wie die Luchsingers zu verkaufen. Die Mapuche wurden entweder vertrieben oder mussten sich mit einem Reservat von 500.000 Hektar begnügen. Der chilenische Anthropologe José Bengoa nennt diesen Akt der Willkür ein „dunkles Kapitel der chilenischen Geschichte" und argumentiert, dass der heutige Mapuche-Konflikt hier seinen Ursprung hat.

Unter dem sozialistischen Präsidenten Salvador Allende Anfang der 1970er Jahre wurden bei einer Agrarreform 700.000 Hektar Land an die Mapuche zurückgegeben, doch sollte dieser Transfer nur von kurzer Dauer sein. Als sich General Pinochet 1973 an die Macht putschte, hatte sich Allendes Landvergabe erledigt. Mit der Begründung „Somos todos chilenos" (Wir sind alle Chilenen) verloren die Mapuche sogar den Status einer ethnischen Minderheit. Bald schon drängten mit der neoliberalen Öffnung Chiles vermehrt ausländische Investoren ins Land und besonders auf das von den Mapuche beanspruchte ressourcenreiche Terrain. An dieser Verdrängung änderte sich nichts, als das Land 1990 zur Demokratie zurückkehrte. Vorrang hatten die Interessen von Forst- und Energieunternehmen wie CMPC, Endesa und RP Global. Der Wald wich Wasserkraftwerken, Eukalyptus- und Kiefernplantagen für die Holzindustrie, Anlagen zur Lachszucht und Müllhalden. Bis heute sitzt kein einziger Mapuche im Parlament, geschweige denn in einem Ministerium. Einige der Aktivisten wollen sich vom chilenischen Staat emanzipieren, indem sie um eine Selbstverwaltung kämpfen, andere wollen den eigenen Staat.

Seit vier inhaftierte Mapuche aus Protest gegen das Anti-Terror-Gesetz in einen Hungerstreik getreten sind, und das internationale Aufmerksamkeit erregt hat, zeigt sich die Regierung kompromissbereiter als zuvor. Konkret geht es um den „Fall Iglesias". Den Brüdern Ariel, Benito und Pablo Trangol und dem „Lonko" Alfredo Tralcal - ein „Lonko" ist eine Autorität der Mapuche - wird vorgeworfen, eine evangelische Kirche in Padre Las Casas in Brand gesteckt zu haben. Die Beschuldigten sitzen seit über einem Jahr in Untersuchungshaft. Zuletzt ist es im Süden Chiles vermehrt zu derartigen Anschlägen gekommen, doch fehlt es an Beweisen dafür, dass Mapuche-Aktivisten dafür verantwortlich sind. Die Gemeinde in Padre Las Casas besteht größtenteils aus Mapuche, so dass es eher unwahrscheinlich ist, dass die Brandstifter von dort stammen. Bisher stützen sich die Ermittler nur auf anonyme Zeugen.

„Es ist das Ziel des Hungerstreiks, dass die Untersuchungshaft in Hausarrest umgewandelt wird. Die Inhaftierten sind keine Gefahr für die Gesellschaft. Die Regeln eines ordnungsgemäßen Verfahrens sollen eingehalten werden, doch würde die Anwendung des Anti-Terror-Gesetzes kein ordnungsgemäßes Verfahren erlauben", sagt Cristian Tralcal, der Sohn von Alfredo Tralcal. Tatsächlich hatte der Hungerstreik Erfolg, denn inzwischen verkündete Innenminister Mario Fernández, man werde beim „Fall Iglesias" nicht auf das Anti-Terror-Gesetz Bezug nehmen. Er hatte zuvor zusammen mit Präsidentin Bachelet Angehörige der Festgenommenen getroffen. Ungeachtet dessen bleibt Ariel Trangol im Hungerstreik. Zusagen der Regierung könne er keinen Glauben schenken.


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