Sina Horsthemke

Journalistin für Medizin, Sport und Gesellschaft, München

4 Abos und 1 Abonnent
Feature

Training für die Abwehr

Gewappnet durch Impfungen, besiegt unser Immunsystem sogar tödliche Krankheiten. Warum und wann wir uns impfen lassen sollten

Meterhohe Zäune, Bewegungsmelder, Wachpersonal: Mitten in Sibirien befindet sich „Vector“, die wohl bestbeschützte Plattenbau-Anlage der Welt. In dem Hochsicherheitstrakt, einem ehemaligen Biowaffenlabor, verwahren Wissenschaftler einen Massenmörder: das Pockenvirus. Die letzte große Pockenepidemie Deutschlands wütete Ende des 19, Jahrhundert. 180 000 Menschen starben, und Kaiser Wilhelm I. hatte genug: Im Frühjahr 1874 führte er eine Impfpflicht für Neugeborene ein. Dass die Injektion vor Pocken schützt, hatte ein englischer Landarzt schließlich schon 100 Jahre zuvor entdeckt.

Der Kaiser war streng: Eltern, die sich weigerten, kamen in Haft oder hatten eine Geldstrafe zu zahlen. Damit begann der Siegeszug der Impfung – und 1979 galten die Pocken als ausgerottet. Ein weltweites Abkommen sicherte, dass die verbliebenen Virusbestände vernichtet wurde. Nur zwei Laboratorien durften den Erreger zu Forschungszwecken aufbewahren, eines in den USA, das andere in Russland.

190 000 Tote durchs Nicht-Impfen

Das Schreckensbild der Pockenkranken ist in Vergessenheit geraten ebenso wie die Tatsache, dass Impfungen Leben retten. Immer wieder stellen Eltern die Notwendigkeit infrage. Dabei lassen die Zahlen des Robert Koch-Instituts keinen Platz für Zweifel: In den vergangenen zehn Jahren starben in Deutschland rund 190 000 Menschen an Krankheiten, gegen die es eine Impfung gegeben hätte.

Das menschliche Immunsystem lernt ein Leben lang. Trifft es auf Krankheitserreger, bildet es Antikörper, um beim nächsten Mal besser gewappnet zu sein. Es verfügt zudem über Gedächtniszellen. Diese hoch spezialisierten weißen Blutkörperchen erinnern sich an den „Feind“. Eine Lernfähigkeit, die sich die Medizin beim Impfen zunutze macht. Mit einer Impfung bringt der Arzt abgeschwächte (Lebendimpfstoff), abgetötete (Totimpfstoff) Viren oder Virusbestandteile in den Körper. Sie lösen keine Infektion aus, wecken aber die Aufmerksamkeit des Immunsystems. Es bildet Antikörper und Gedächtniszellen – und die reagieren prompt, falls später der echte Erreger angreift. Lebendimpfstoffe wie jene gegen Masern oder Windpocken fordern den Körper stärker, bleiben dem Immunsystem dafür aber ewig in Erinnerung. Nach erfolgter Grundimmunisierung besteht Schutz für den Rest des Lebens. An Totimpfstoffen muss das Immunsystem öfter „trainieren“. Deshalb werden Impfungen gegen Diphtherie, Hepatitis B oder Tetanus regelmäßig aufgefrischt.

Vermag ein Krankheitserreger nur im menschlichen Körper zu existieren, besteht die Chance, ihn auszurotten – wenn nur genug Menschen dagegen geimpft sind. Was bei den Pocken vor fast 40 Jahren gelungen ist, sollte 2010 auch mit den Masern geschehen. Doch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat ihr Ziel verfehlt. Noch 2017 infizierten sich europaweit mehr als 21 000 Menschen mit der Kinderkrankheit, 35 starben daran. Schon im April dieses Jahres waren in Deutschland mehr Masernfälle aufgetreten, als für ganz 2018 vorausgesagt waren.

Der Erfolg wird der Impfung zum Verhängnis
„Das Wort Kinderkrankheit ist viel zu harmlos“, sagt Johannes Hübner, Leiter der Abteilung für Infektiologie an der Kinderklinik der Universität München. „Masern sind nicht harmlos.“ Meist heilen sie folgenlos ab, doch bei fast jedem Fünften treten Komplikationen auf. Bei einem von 1000 Patienten entzündet sich das Gehirn, was wiederum fast jeder Fünfte nicht überlebt. Manchmal schlägt die Krankheit sechs bis acht Jahre später noch einmal zu – dann mit einer chronischen Hirnentzündung, die immer tödlich endet. „Das Risikobewusstsein für diese Komplikationen ist verschwunden, da die Erkrankungen nicht mehr so präsent sind“, klagt Hübner, der auch Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie ist.

In immerhin 33 WHO-Mitgliedsstaaten gelten die Masern als besiegt. Offiziell befreit sind unter anderem Nord- und Südamerika, Dänemark, Spanien, Großbritannien, Griechenland, Kroatien, Albanien und Usbekistan. Deutschland gehört neben Polen, Rumänien und der Ukraine zu den verbleibenden 14 Ländern, in denen das Masernvirus noch heimisch ist. Schuld daran sind zu niedrige Durchimpfungsraten: Für die Ausrottung müssten 95 Prozent der Bevölkerung geimpft sein. Die zweite Impfung, die für einen vollständigen Schutz unerlässlich ist, erhalten in Deutschland aber nur drei von vier Kindern. Dadurch entstehen Impflücken, die das Virus zur Verbreitung nutzt. Immer wieder kommt es in Deutschland sogar zu größeren Ausbrüchen – zuletzt 2015, als sich fast 2500 Menschen infizierten.

Es ist der eigene Erfolg, der dem Impfen zum Verhängnis wird. Da auch Mumps, Diphtherie, Polio und Tetanus von der Bildfläche verschwunden sind, erscheint vielen das Impfrisiko größer als die Gefahr, sich damit zu infizieren. „Mütter in Tansania könnten das nicht verstehen“, sagt der Münchner Kinderarzt Hübner. „Die nehmen weite Wege in Kauf, um ihre Kinder impfen zu lassen, weil sie andere an den Krankheiten sterben sahen.“ Erschwerend hinzu kommen sogenannte Fake News, die vor allem im Internet kursieren. „Viele Leute informieren sich schlecht und meinen, sie wüssten Bescheid“, erklärt Hübner. „Die Geschichte von Andrew Wakefield ist das beste Beispiel.“ Der britische Arzt hatte Ende der 90er-Jahre die Schreckensnachricht verbreitet, der Impfstoff gegen Masern, Mumps und Röteln löse Autismus aus. Obwohl dies wissenschaftlich längst widerlegt ist und Wakefield die Zulassung entzogen wurde, hält sich die These hartnäckig. Sie befeuert die Argumentation der Impfgegner und verunsichert Mütter, die eigentlich nur alles richtig machen und für ihr Kind das Beste wollen.

Skeptikern berichtet Hübner von seinem Berufsalltag. „Ich bin seit 1993 Kinderarzt und habe einiges gesehen. Kinder, die an Diphtherie starben, oder weinende Eltern, die sich Vorwürfe machten, ihr Kind nicht geimpft zu haben.“ Erst kürzlich behandelte Hübner auf der Intensivstation der Klinik einen Dreijährigen mit Wundstarrkrampf. „Dass wir Tetanus im 21. Jahrhundert noch sehen müssen, ist eine Katastrophe.“

Jahrelange Sicherheitstests

Impfungen sind sicher und verursachen weder Autismus noch Allergien. Das haben zahllose Studien bewiesen. Bevor ein Serum die Marktzulassung erhält, muss sein Hersteller in jahrelangen Tests dessen Wirksamkeit und Verträglichkeit beweisen. Wie jedes andere Arzneimittel sind Impfstoffe freilich nicht ohne Nebenwirkungen. Übliche Beschwerden sind bei bis zu 20 Prozent Rötungen, Schwellungen oder Schmerzen an der Einstichstelle, die aber schnell von selbst abklingen. Bei bis zu zehn Prozent kommt es zu Fieber, Kopfschmerzen, Übelkeit oder Durchfall. Ein Impfschaden besteht laut Infektionsschutzgesetz, wenn gesundheitliche Probleme entstehen, die „über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehen“.

Besteht der Verdacht auf so einen Impfschaden, muss der Arzt dies dem Gesundheitsamt melden. Die Daten aus ganz Deutschland sammelt das Paul-Ehrlich-Institut im hessischen Langen im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums. Durchschnittlich 207 Anträge auf Anerkennung eines Impfschadens gehen hier jedes Jahr ein, 34 davon bestätigen sich. Kleinere Komplikationen melden Ärzte häufiger: 2016 erreichten die Bundesbehörde 3673 Verdachtsfälle, meist ging es um Schmerzen und Schwellungen an der Einstichstelle sowie Fieber. Verglichen mit jährlich rund 35 Millionen Impfdosen allein bei gesetzlich Versicherten, sind das nicht viele Zwischenfälle.

„Impfschäden sind extrem selten“, bestätigt Hübner. „Doch viele Eltern reiten darauf herum.“ Der Kinderarzt kennt die Einwände der Kritiker nur zu gut. Ein Kind bekäme viele Abwehrstoffe von seiner Mutter? „Stimmt, manche Antikörper überwinden die Plazentaschranke“, erklärt Hübner den sogenannten Nestschutz. „Aber spätestens nach sechs Monaten sind alle mütterlichen Moleküle abgebaut.“ Mehrfachimpfstoffe überfordern das kindliche Immunsystem, meinen einige. „Das ist Quatsch“, entgegnet Hübner. „Der Körper hat es täglich mit zahllosen Mikroorganismen zu tun. Auf eine Impfung kommt es da nicht an.“ Den Termin verschieben sollen Eltern nur bei größeren Infekten mit Fieber. „Ein bisschen Schnupfen spricht aber nicht dagegen“, mahnt Hübner. Denn auch deshalb entstehen Impflücken: weil Eltern die Termine hinauszögern. Verweigern sie das Impfen ganz, ärgert sich Hübner, denn als Arzt sieht auch er sich in der Verantwortung. „Kinder haben ein Recht auf Impfungen. Zudem sollte sich jeder bewusst machen, dass er geimpft zum Schutz der Gesellschaft beiträgt.“

Wie Autofahren ohne Anschnallen

Fährt jemand Auto, ohne sich anzuschnallen, ist das sein Problem. Lässt sich jedoch jemand nicht gegen Masern impfen, bringt er jene in Gefahr, die sich nicht impfen lassen können: Neugeborene, Schwangere oder Menschen, deren Immunsystem nach einer Organtransplantation oder Krebserkrankung geschwächt ist. Sie alle sind nur dann vor einer Krankheit gefeit, wenn die Menschen in ihrer Umgebung geimpft sind und den Erreger nicht weitergeben. Herdenimmunität nennt man das. „Vielen fehlt das Bewusstsein dafür“, sagt Hübner.

Cornelia Betsch als Psychologin aus einer ganz anderen Fachrichtung sieht das ähnlich: „Ich würde mir bei Impfgesprächen im Sandkasten mehr Diskussionen über soziale Verantwortung wünschen.“ An der Universität Erfurt erforscht die 39-Jährige, warum sich Menschen für oder gegen das Impfen entscheiden. Drei Viertel der Deutschen befürworten die Schutzmaßnahme, rund fünf Prozent gelten als Gegner. „Und dann gibt es noch die Fence-Sitter“, erklärt Betsch. Die hocken, bildlich gesprochen, auf dem Zaun und können sich nicht entscheiden, auf welcher Seite sie hinabspringen sollen. Jene Unentschlossenen, erklärt Betsch, seien „meist bildungsnahe Menschen, die viel selbst nachlesen und dabei viel Stuss finden“. Impfkritische Internetseiten oder Bücher säen Zweifel in ihren Köpfen. „Und wer Angst hat, etwas falsch zu machen, der macht lieber gar nichts.“

In einschlägigen Internetforen stößt man schnell auf Berichte über Einzelfälle, die schwere Impfschäden davongetragen haben. „Die Geschichten sind sehr bedauerlich und emotional, man kann sie sich deshalb gut merken“, sagt Betsch. „Dagegen kommen nackte Zahlen und Statistiken nur schwer an.“ Sogar Menschen, denen völlig klar ist, dass die Datenlage für das Impfen spricht, geraten angesichts solcher Berichte ins Grübeln, hat die Psychologin herausgefunden. Sie stellte auch fest, dass oft Zeitmangel dahintersteckt, wenn Kinder nicht geimpft sind. „Impfen ist Aufwand“, erklärt Betsch. „Wenn der Sohn noch zum Fußball oder einem Kindergeburtstag muss, passt ein Arzttermin schlecht in den Alltag.“ Man müsste das Impfen einfacher machen, findet die Psychologin.

Wann welche Schutzimpfung erfolgen sollte, veröffentlicht jedes Jahr die Ständige Impfkommission (STIKO) in ihren Empfehlungen. Wer dort nachschaut und fürchtet, dass er einiges nachzuholen hat, ist bei seinem Hausarzt an der richtigen Adresse. Er prüft im Impfpass, ob etwas aufzufrischen ist. Ist das Dokument nicht mehr auffindbar, gibt es zwei Möglichkeiten, sagt der STIKO-Vorsitzende Thomas Mertens: „Am einfachsten ist es, alle Standardimpfungen aufzufrischen, die ein Erwachsener haben sollte. Sollte eine zu viel dabei sein, schadet das nicht.“ Denn das Immunsystem inaktiviert kurzerhand den Erreger aus dem Serum, wie es das gelernt hat. Alternativ testet der Arzt das Blut auf vorhandene Antikörper und sieht, ob eine Impfung fällig ist. Der Mediziner spiele eine Schlüsselrolle bei der Einstellung zum Impfen, sagt Mertens: „Wenn ein Patient Fragen hat, sollte er klare Antworten geben. Zögert der Arzt, schürt das Unsicherheiten.“

Eine Impfpflicht könnte auch schaden

Dass es aufgrund von Unsicherheiten bisher nicht gelang, die Masern auszurotten, ärgert den Virus-Experten: „Wir haben unsere Chance noch nicht genutzt, obwohl sie realistisch war.“ Von einer Impfpflicht, wie sie Italien, Frankreich und indirekt auch die USA eingeführt haben, hält Mertens trotzdem nichts: „Sie könnte dem Impfen mehr schaden als nützen. Eher sollten wir alles für eine Bonusregelung tun.“

Eine Prämie für jeden, der sich um seine Impfungen kümmert? Wieso nicht – auch die Erfurter Psychologin Betsch rät von einer Impfpflicht ab. Eine ihrer Studien ergab, dass freiwillige Impfungen dann erst recht vernachlässigt würden, weil die Menschen sich ihre Entscheidungsfreiheit darüber zurückholen. „Eine Pflicht würde besonders die Skeptiker nur verärgern“, sagt Betsch. „Besser fände ich eine Widerspruchslösung wie es sie in manchen Ländern für Organspender gibt: Wer vom Impfen zurücktreten möchte, kann das mit einem Formular erklären.“

Wie auch immer Deutschland seine Impflücken schließen wird: Bis das Masernvirus aus den Kitas verschwunden ist und in Sibirien neben den Pocken steht, wird wohl noch einige Zeit vergehen. Jeder Einzelne könnte dazu beitragen, dass es nicht mehr allzu lange dauert.

Foto: ktsdesign/123RF