Simon Broll

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Grusel-Schauspieler Lon Chaney: Der Mann mit den tausend Gesichtern - Einestages

Ohne seinen Schminkkoffer ging er nicht ans Set: Über Jahre erweckte Lon Chaney die Geächteten der Gesellschaft mit ein bisschen Make-up und Verkleidung zum Leben. 1923 gelang dem Stummfilmstar der internationale Durchbruch - als deformierter Glöckner von Notre Dame.

Von Simon Broll

Schwerverletzt kletterte das Monster mit dem Buckel und dem hinkenden Gang in den Kirchturm. Das Licht des Mondes fiel durch eine Fensterluke, als das Wesen auf dem Boden liegend nach dem Seil griff und die große Totenglocke zum Läuten brachte. Einmal, zweimal, dreimal zog es das Tau zu sich herunter. Jeder in der Stadt sollte hören: Das Ungeheuer lag im Sterben. Dann brach Quasimodo zusammen.

Es war der 2. September 1923, und im großen Saal des New Yorker Astor-Theaters flackerten die letzten Bilder des damals teuersten Films der Welt. Auf der Leinwand kam die Kirchturmglocke zum Stehen, im Orchestergraben setzten die Musiker zum Schlussakkord an, und in den Sitzreihen zückten Frauen ihre Stofftaschentücher. Nachdem das Licht des Kinosaals anging, brachen auf den Rängen Begeisterungsstürme aus - als plötzlich ein unscheinbar aussehender Mann im dunklen Anzug auf die Bühne geschoben wurde: Es war Lon Chaney, Quasimodos Darsteller.

Fast ehrfürchtig stand der Schauspieler, der nur wenige Augenblicke zuvor als Glöckner von Notre Dame auf der Kinoleinwand gestorben war, vor seinem feiernden Publikum. Ihm war gelungen, was kein anderer Hollywood-Star vor ihm geschafft hatte. Er hatte Mitleid erweckt für seinen Quasimodo, eine entstellte Figur, deren Äußeres in erster Linie Angst und Ekel verbreiten sollte.

Sympathie für die Außenseiter der Gesellschaft

Zwar gilt der bucklige Glöckner bis heute als eine der wichtigsten Rollen Chaneys. Dennoch war der Schauspieler seit jeher dafür bekannt, sich in kranke, entstellte und verkrüppelte Charaktere hineinzudenken. Stets achtete Chaney bei seinen Darbietungen allerdings darauf, auch der fiesesten Rolle eine gewisse Würde zu verleihen. "Ich habe versucht zu zeigen, dass die geringsten Menschen die höchsten Ideale vertreten können", erklärte er einmal in einem seiner wenigen Interviews.

Seine Symphatie für die Verstoßenen der Gesellschaft erlernte Chaney schon früh - im eigenen Elternhaus. 1883 wurde Leonidas Frank - alias Lon - Chaney in Colorado Springs als Kind zweier gehörloser Eltern geboren. Damals wurden Menschen, die nicht hören konnten, gesellschaftlich noch geächtet, vor allem unter Kindern waren sie als Monster und Freaks verschrien. Auch die Chaneys fühlten sich oft isoliert in ihrer Heimat.

Als Chaneys Mutter Emma durch eine Rheuma-Erkrankung bettlägerig wurde, verließ Lon als Viertklässler die Schule. Drei Jahre lang spielte er zu Hause den Alleinunterhalter - und lernte schon damals, nur mit seinem Körper Emotionen auszudrücken.

Giftskandal im Theatermilieu

Nach einer Ausbildung zum Tapezierer und Parkettverleger setzte Chaney seine Entertainer-Qualitäten schließlich auch beruflich ein und wechselte zum Theater. Als Wanderschauspieler bereiste er die Großstädte der USA, wo er seine Frau Cleva kennenlernte. Obwohl er 22 und sie erst 16 Jahre alt war, heiratete das junge Paar kurze Zeit später und ließ sich nach der Geburt seines Sohnes Creighton in Los Angeles nieder.

Gemeinsam hatten Lon und Cleva Chaney ein Ziel vor Augen: als Bühnenschauspieler berühmt werden. Vom Stummfilm, dem neuen Medium, hielt das Ehepaar wenig: Ihm haftete ein Schmuddel-Image an, ins Kino ging nur, wer fummeln wollte, nicht, wer anspruchsvolle Unterhaltung suchte. Außerdem wurden Filmschauspieler damals miserabel bezahlt, an Ruhm und Ehre war nicht zu denken.

Während sich Lon Chaney von einem mäßigen Theaterauftrag zum nächsten hangelte, nahm die Karriere seiner Frau Cleva an Fahrt auf. Doch der Ruhm sollte nicht lange halten. Als Kabarettsängerin wurde sie öfter von Gästen auf ein Glas eingeladen. Was harmlos anfing, endete in handfesten Alkoholproblemen. Immer später kam Cleva Chaney von ihren Auftritten zurück nach Hause, meist war sie betrunken.

1913 schluckte sie im Streit mit ihrem Mann sogar eine Flasche giftiges Quecksilberbichlorid. Die Ärzte im Krankenhaus konnten die junge Frau zwar wiederbeleben, doch ihre Singstimme sollte Cleva Chaney für immer verlieren. Als seine Gattin außer Lebensgefahr war, reichte Lon Chaney die Scheidung ein. Von nun an musste er sich allein um seinen Sohn kümmern.

Nach dem Giftskandal hatten sich seine Jobaussichten weiter verfinstert: Kein Theaterregisseur wollte mehr mit Chaney zusammenarbeiten. Der 30-Jährige sah nur eine Chance, um sich seinen Traum vom Schauspielern doch noch zu erfüllen: Er legte seine Bedenken gegenüber dem Filmgeschäft ab und ging nach Hollywood.

Ein zauberhafter Make-up-Koffer

Chaney kam bei den Universal-Studios unter Vertrag, wo er in Slapstick-Komödien und Western mitspielte. Damals war die Dauer eines Streifens noch auf eine Filmrollenlänge beschränkt. Mit der Zeit aber wurden die Spielfilme länger, die Geschichten anspruchsvoller - und auch Chaney erhielt größere Aufträge.

Vor allem ein Talent verhalf ihm bei Universal anfangs zu Arbeit: Schon als Wanderschauspieler hatte Chaney gelernt, seine Masken selbst aufzutragen. Sein flinkes Schminkhandwerk brachte ihm einen entscheidenden Vorteil gegenüber weniger fingerfertigen Kollegen. Denn: Damals musste jeder Schauspieler noch selbst für seine Verkleidung sorgen. Eigene Make-up-Studios gab es nicht. Und so tingelte Chaney stets mit einem Schminkköfferchen durch die Filmkulissen - und verpasste sich selbst lange Narben, falsche Zähne und wahnwitzige Masken.

Von chinesischen Einwanderern über Frauen bis hin zu Clowns, Piraten oder Vampiren - in so ziemlich jede Rolle konnte Chaney sich verwandeln, was ihm auch zu seinem Spitznamen verhalf: Der Mann mit den tausend Gesichtern. Von kleinen Nebenrollen wie mürrischen Seeräubern oder finsteren Unterwelt-Bossen avancierte Chaney bald zur gefragten Hauptfigur – und durfte auch eigene Filmvorschläge machen. So kam er auch zu seiner Traumrolle, dem Glöckner Quasimodo.

Buckel aus 20 Pfund Gummi

Schon früh faszinierte Chaney das entstellte Wesen aus dem Roman Victor Hugos, das im Turm der Pariser Kathedrale Notre Dame wohnte und durch das Glockenläuten taub geworden war. In Hollywood-Kreisen galt das Werk als unverfilmbar - bis Lon Chaney sein Interesse bekundete.

Für den "Glöckner von Notre Dame" ließen die Universal-Studios extra die Außenfassade der Kathedrale nachbauen, 2500 Komparsen spielten mit, schnell explodierten die Produktionskosten - auf 1,25 Millionen US-Dollar. Noch nie zuvor hatte ein Film so viel gekostet.

Die Rolle des Zigeunermädchens Esmeralda übernahm die damals noch weitgehend unbekannte Jungdarstellerin Patsy Ruth Miller. Aber der eigentliche Star des Films war ohnehin Chaney - der für seine Wunschrolle seine gesamte Kunst als Maskenbildner einsetzen musste.

Für den Buckel ließ sich Chaney einen Leibgurt basteln, auf dem ein 20 Pfund schweres Gummigewicht lagerte. Die falschen Zähne wurden mit einer Drahtschiene gehalten, die es Chaney unmöglich machte, den Mund zu schließen. Spätestens nach drei Stunden hatte der Schauspieler körperliche Schmerzen - auch durch die Klebestreifen im Gesicht, die seine Augen zusammenzogen. Doch die Qualen zahlten sich aus: "Der Glöckner von Notre Dame" wurde 1923 Universals erfolgreichster Film und ein Kassenschlager in Frankreich, Deutschland und Großbritannien.

Erfolgreicher als Charlie Chaplin

Nach der Glöckner-Rolle standen Chaney die Türen des Showbusiness offen. Für Universal spielte er das "Phantom der Oper" und für das legendäre Hollywood-Studio MGM war er als armloser Messerwerfer Alonzo in "The Unknown - Der Unbekannte" zu sehen. Seine größten Erfolge feierte Chaney vor allem in Filmen des Regisseurs Tod Browning, einem ehemaligen Jahrmarktschreier. 1928 und 1929 spielten Chaneys Filme so viel Geld ein, dass er damit damals sogar vor den Arbeiten von Charlie Chaplin, Douglas Fairbanks oder Frauenschwarm Rudolph Valentino landete.

Als der Filmskeptiker Chaney 1930 auch seinen Widerstand gegenüber dem Tonfilm aufgab, hörte man ihn in "Die unheimlichen Drei", dem Remake eines früheren Chaney-Stummfilms, zum ersten Mal sprechen. Fortan war das ganze Land im Chaney-Fieber, sämtliche Vorstellungen waren ausverkauft, jeder wollte den Mann mit den tausend Gesichtern unbedingt reden hören. Doch dazu kam es nicht mehr: Am 26. August 1930 - nur wenige Wochen nach der Premiere seines ersten Tonfilms - starb Chaney an Lungenkrebs. Schockiert von der Nachricht hielten alle Filmstudios des Landes noch am selben Tag die Arbeit für eine Trauerminute an.


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