Mitten in den zweiten, dritten Lockdown hinein veröffentlicht das Musikprojekt Rhye ein Album, dessen Titel längst ambivalente Assoziationen weckt. Home heißt die Platte, und seit Anfang 2020 klingt dieses Wort Zuhause zunehmend weniger heimelig. Es steht für stille Einsamkeit oder laute Überforderung; für Homeoffice oder Fluchtort vor allem dort draußen; für Zoom-Geburtstagspartys, bei denen alle gleichzeitig reden und einander darüber hinwegtäuschen, dass sie sich allein in ihren Wohnzimmern betrinken. Man kann die Musik gar nicht laut genug stellen, um das Elend zu übertönen. Aber dann würden die Nachbarn wegen Ruhestörung klingeln.
Mike Milosh nun, der Multiinstrumentalist hinter dem Soloprojekt Rhye, produziert seit seinem noch gemeinsam mit Robin Hannibal als Duo eingespielten Debüt popgewordene Sinnlichkeit und knisternde Erotik mit R'n'B-Bezügen; auch das mittlerweile vierte Album Home klingt entsprechend. Sex und die Pandemie allerdings passen nach vielen Leidensberichten nicht gut zusammen. Seit man sich unentwegt in gemeinsamen Wohnungen auf die Pelle rückt und das Homeschooling der Kinder, der Arbeitsalltag und das eigene Wohlbefinden in minimalem Radius erledigt werden müssen, ist die Aussicht auf noch mehr körperliche Nähe wenig verlockend. Für Singles wiederum birgt jedes Treffen mit einer unbekannten Person das Risiko eines potenziellen Virenfangs, da bleibt man womöglich lieber mit sich und Tinder allein.
Home aber soll gar kein Corona-Album sein, hat Mike Milosh zuletzt in Interviews erzählt. Es handele vielmehr von einer neu gefundenen Häuslichkeit, die der gebürtige Kanadier nach Jahren des Unterwegsseins eingegangen sei. Milosh erklärt sein Nomadentum gern mit seinen familiären Wurzeln, seine Vorfahren gehörten angeblich zu einem Stamm, der in Russland und der Ukraine siedelte und der offenbar viel unterwegs war. Milosh selbst lebte bereits in Thailand, Deutschland und den Niederlanden. Ab dem Moment, da Rhye seinen Durchbruch hatte, legte er als tourender Musiker berufsbedingt ordentlich Kilometer zurück.
Nun ist Milosh sesshaft geworden, im kalifornischen Topanga nahe der Pazifikküste hat er sich mit seiner Lebensgefährtin Geneviève Medow Jenkins niedergelassen; jener Frau, die auch die Coverfotos dieser und der vorherigen Rhye-Platte ziert. Topanga war in den Siebzigerjahren eine Hochburg für Hippies, Künstlerinnen und Künstler (die Manson-Familie verübte in den Santa Monica Mountains allerdings auch ihren ersten Mord). Milosh und Medow Jenkins organisieren seit 2019 in Topanga Liveevents, die sich hauptsächlich um Musik, Meditation, Massage und Gemeinschaft drehen.
Offenbar war neben der ganzen Achtsamkeit noch genug Zeit, um sich an die neue Platte zu setzen: Home ist hauptsächlich im Heimstudio Miloshs entstanden. Inspiriert wurden die 13 Stücke des neuen Albums also nicht durch den momentanen Zustand der Welt, sondern die Lebensumstände des Musikers - so zumindest lautet die Erzählung.
Was die Privatperson Milosh so macht, schien den Musiker Milosh allerdings bislang kaum tatsächlich zu beeinflussen: Zwischen seinen ersten beiden Platten trennte sich Milosh nicht nur von seiner ersten Plattenfirma und dem Mitstreiter Hannibal, sondern auch von seiner damaligen Ehefrau - ohne dass dies irgendeinen Nachhall in der Musik von Rhye zu haben schien. Jetzt leitet auch der Wechsel vom Leben auf der Straße zum Alltag eines meditierenden Hauseigentümers keine hörbare Veränderung ein. In seinen Songtexten ist Milosh stets serienmäßig verzweifelt, verzehrt sich vor Verlangen oder fleht beim besungenen Gegenüber um Hingabe; vorgetragen wird das in luxuriösem Falsett und ohne dass jemals eine nonchalante Kultiviertheit aufgegeben würde. Dafür sorgen Miloshs geschmackvolle Arrangements: Dem eingängigen Pop wird genau so viel Elektronik, Jazz, Funk und Soul zugesetzt, dass alles wohltemperiert bleibt. Rhye-Musik besteht aus geschmeidigem Ambient-Pop und hübschem Softtronica, mit genug Spannung, um die Anmutung von Tiefgang zu erzeugen und nicht Richtung Fahrstuhlmusik abzurutschen.