Jungfräulichkeit ist noch immer heilig, gleichzeitig aber lebt sich die Jugend sexuell aus: Die große Autorin Leïla Slimani beschäftigt sich mit ihrer Heimat Marokko - und klärt auf über Islam und Feminismus.
Dienstag, 18.09.2018 20:51 Uhr
Alle reißen sich um Leïla Slimani: Mit ihrem Roman "Dann schlaf auch du" über den Kindsmord einer Nanny schrieb die französisch-marokkanische Schriftstellerin einen Bestseller. Die französische "Elle" widmete ihr ein Cover und sogar Präsident Emmanuel Macron warb um Slimani; aktuell arbeitet sie für ihn als Botschafterin für Frankophonie. Außerdem will sie die Rechte von Frauen im Maghreb stärken - und genau darum geht es auch in ihrer ersten Graphic Novel "Hand aufs Herz" sowie dem Essayband "Sex und Lügen", die gerade erschienen sind.
Nach der Veröffentlichung ihres ersten Romans 2014 machte Slimani eine Lesereise durch Marokko, das Land in dem sie aufgewachsen war, in dem sie sich schon als Jugendliche empört hatte, dass Frauen weniger Freiheiten genossen. Während dieser Reise habe sie Nour kennengelernt, eine junge Frau, die ihr von ihrem Liebesleben erzählte. Das sei der Anstoß für die Graphic Novel "Hand aufs Herz" gewesen, die von Laetitia Coryn gezeichnet wurde - und eine Gelegenheit, Gesichter von Frauen zu zeigen, die sonst anonym bleiben müssen.
"Die marokkanische Gesellschaft ist bipolar"
Die marokkanische Gesellschaft spricht nicht öffentlich über Sex, ist aber weltweit der fünftgrößte Konsument von Internetpornografie. Slimani analysiert die Widersprüche scharf in ihren Essays, aber verzichtet auch in ihrer Graphic Novel nicht auf einen Grundkurs in marokkanischem Recht und seinen gesellschaftlichen Folgen: Die Artikel 449, 454 und 455 regeln auf allen möglichen Ebenen das Verbot von Abtreibungen.
Der Leser erfährt, dass Sex vor der Ehe verboten ist, aber vor allem in der jüngeren Generation zum Alltag gehört: Sie geht "in von Franzosen betriebene Hotels, da werden wir nicht nach unseren Ausweisen gefragt". Und dass marokkanische Männer oft noch immer nicht zwischen einer sexuell aktiven Frau und ihrer Einwilligung zum Sex unterscheiden. Ein Wissenschaftler kommentiert: "Die marokkanische Gesellschaft ist bipolar."
Slimani dokumentiert die Erfahrungen von Nour und ihren Freundinnen, trifft Frauen, die Prostituierte, Ärztinnen oder Wissenschaftlerinnen wurden. Sie lässt sie ebenso über Vergewaltigung als auch über Lust sprechen, holt das kollektive Unbewusste durch Worte an die Oberfläche; lässt etwa Ärztinnen erzählen, dass sie noch immer selbstverständlich intakte Jungfernhäutchen attestieren oder Wissenschaftlerinnen berichten, die sich in feministischer Koranexegese auskennen.
Slimani trifft zum Beispiel die Ärztin Asma Lamrabet: "Wir müssen die Art, wie die Mädchen und Jungen erzogen werden, völlig überarbeiten und ihnen die Religion vielmehr als eine Ethik der Freiheit und Emanzipation näherbringen, anstatt als eine sittenstrenge, rigide Moral." Frauenfeindlichkeit gebe es überall, sie sei nicht spezifisch für den Islam. Lamrabet erklärt Suren, die die Sitten eher befreien.
Die emanzipierte Seite der arabischen Welt
Damit wird auch klar, warum sich der französische Präsident für die 36-jährige Autorin interessiert und sich mit ihr schmückt, in einem Frankreich, das zwar als Einwanderungsland auch mit arabischstämmigen Künstlern und Politikern aufwartet, aber ebenso mit der Angst vor Terror und rassistischer Gewalt zu kämpfen hat. Slimani ist eine Stimme, die bisher fehlte - und nicht nur in Frankreich, wenn man an etwa die aktuellen Debatten zu sexueller Belästigung, Frauenrechten und muslimischen Migranten in Deutschland denkt.
Der Epilog in Slimanis Graphic Novel ist ein Teegespräch mit marokkanischen Männern: "Für mich ist Sex unzertrennlich mit Liebe verbunden." Oder: "Wir haben nicht alle so archaische Vorstellungen von den Frauen." Slimani schreibt genauso gegen deterministische Männer- wie Frauenbilder an. Stereotype gibt es nicht ohne Grund, aber sie sind eben auch unvollkommen, und diese Lücke füllt Slimani aus. Ihre Themen sind die Menschlichkeit, die Würde und die Freiheit jedes Einzelnen.
Als im Zuge der #MeToo-Debatte französische Schauspielerinnen rund um Catherine Deneuve in einem offenen Brief forderten, man müsse "die Freiheit, aufdringlich zu sein" erhalten, hatte Slimani eine deutliche Antwort. Hinter dieser sogenannten Freiheit verstecke sich auch nur ein allzu enges Männerbild: "Man wird als Schwein geboren."
Für ihren Sohn hoffe sie, er möge ein freier Mann werden. "Nicht frei, aufdringlich zu sein, sondern frei, sich als etwas anderes als ein von unkontrollierbaren Trieben beherrschtes Raubtier zu definieren."