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Reportage

"Minister Wu, treten Sie zurück!"

Taiwans Geschichte soll umgeschrieben werden. Tausende Schüler gehen dagegen auf die Barrikaden. Werden sie gehört? Einer der Führer der Protestbewegung hat sich umgebracht
Von Silke Weber

Dai Lin liegt im Bett und tippt auf seinem Smartphone: "Wünscht mir alles Gute!" Dann die Zahlen 8, 5, 12, 16. Vier Ziffern, die im englischen Alphabet für Buchstaben stehen: HELP. "Ich habe nur einen Wunsch: dass unser Bildungsminister die neuen Richtlinien zurückzieht." Er postet die Sätze auf Facebook. Es ist der 30. Juli 2015, die Nacht vor seinem 20. Geburtstag. Am nächsten Morgen steht Lin nicht mehr auf. Er hat sich umgebracht.

Gina: "Vor Lins Tod hatten wir keinen großen Erfolg in der Gesellschaft. Ich glaube, er wollte, dass wir endlich gesehen werden."

Hat er das so gesagt?

Gina: "So war er drauf. Und nach seinem Tod fingen die Leute an, sich zu interessieren."

Das war sein Ziel?

Chen: "Ja."

Ein Tod als Schrei nach Aufmerksamkeit – nicht für sich, sondern für ein höheres Ziel. Lin habe sich umgebracht, so glauben seine Freunde, weil er so die Einführung neuer Schulbücher verhindern wollte. Schulbücher, die ihm, der sich als Taiwaner fühlte, wie chinesische Propaganda vorkamen. Beweisen können Gina und Chen nicht, dass es nicht auch andere Gründe für Lins Suizid gab. Er hinterließ keinen Abschiedsbrief, nur die kryptischen Facebookpostings. Aber Lin hatte sein Leben schon seit Monaten dem Kampf gegen die geplante Geschichtsumschreibung in den Schulbüchern verschrieben, wurde dabei immer verzweifelter.

Ein Riss geht durch Taiwan und seine Familien. Vor allem Angehörige der älteren Generation fühlen sich kulturell als Chinesen, doch es werden weniger. Nach einer Studie der National Chengchi University hat sich die Zahl derer, die sich als Taiwaner bezeichnen, seit 1992 mehr als verdreifacht: auf 60 Prozent, während die Zahl derer, die sich nur als Chinesen verstehen, auf rund drei Prozent gesunken ist.

Chen, langes schwarzes Haar, die linke Seite rasiert, Basecap, zieht am Strohhalm seines Iced Latte. Er sitzt mit Gina in seinem Lieblingscafé im Zentrum von Taipeh, beide waren gut mit Lin befreundet. Chens Kopf sinkt auf seine Brust. Ihm ist unwohl, über Lin zu reden.

Im Sommer, als Lin noch lebte, zogen sie zu dritt durch Zhongshan, ein modernes Viertel im Zentrum Taipehs, über die mit Ahornbäumen gesäumte Zhongshan South Road bis zum dort gelegenen Bildungsministerium. Schüler von mehr als 150 Highschools unterstützen den Protest, die Northern Taiwan Anti-Curriculum Changes Alliance. Anfang Juli ist sie so stark wie nie zuvor, mit mehr als 1500 Demonstranten. Jemand zertrümmert eine Büste mit dem Konterfei des chinesischen Staatschef Xi Jinping.

Lin und Gina gehören zu den Sprechern der Protestbewegung. Chen ist ihr Anführer. Nacheinander steigen sie auf das von ihnen errichtete Podium, sie sprechen von einer Gehirnwäsche durch die Regierung und davon, dass diese die Ideologie eines autoritären Systems in die Schulbücher schreibt. Ihre Parole lautet: "Schluss mit der Black-Box-Politik! Stoppt die Lehrbuch-Reform!" Lin glaubte, etwas ändern zu können.

Lin galt als schlechter Schüler, weil er "nur" eine Berufsschule besuchte. Er las gern, mochte vor allem die alten Römer und Griechen, Cicero und Aristoteles, aber auch Laotse und Konfuzius.

Chu Chen, 19, hingegen geht auf die beste Jungenschule der Stadt, ein Versprechen für eine erfolgreiche Zukunft. Er spielt Gitarre, mag Fitnessstudios und Shirts mit Sprüchen darauf: "Education system kills youth" etwa – "Das Bildungssystem bringt die Jugend um".

Wang Gina, 18, besucht die Cheng-Yuan-Highschool, eine gute Mittelklasseschule, nicht weit vom Zentrum. Sie ist eine redegewandte und fleißige Schülerin, mag Basketball, Englisch und Harry Potter.

Die drei Freunde sind Teil einer globalisierten taiwanischen Jugend, denen das Internet oft mehr verrät als die Schule. Jetzt ist diese Jugend wütend. Gina zieht eines der neuen Schulbücher aus ihrem Rucksack. Sie trägt einen geraden Pony, ein weißes T-Shirt, eine lila Hose – ihre Schuluniform. Sie sucht nach einer Seite im Buch, legt es aufgeschlagen auf den Tisch: "Da steht: 'Die Kuomintang ist meist die Regierungspartei, ihre unkorrupte, demokratische Regierungsfähigkeit bringt den 23 Millionen Menschen von Taiwan Glück.' Pfff."

Gina und Chen ärgern sich über die "chinafreundlichen Anpassungen". Die prochinesische Kuomintang werde glorifiziert und ihre koloniale Rolle heruntergespielt. Da sei von "Festlandchina" die Rede, was impliziere, dass Taiwan als Insel dazugehöre. "Sie möchten, dass wir Schüler glauben, dass wir aus China stammen und unsere eigene 400-jährige Geschichte vergessen", sagt Gina. Etwa 60 Prozent des Textes seien betroffen. "Wir lernen nichts über die Freiheitskämpfer, die sich für die Unabhängigkeit Taiwans einsetzten."

Einen Sommer lang beschäftigt die Schüler nichts anderes. Chen, Gina und Lin treffen sich heimlich, mal im Keller der Vereinigung taiwanischer Universitätsprofessoren, mal zu Hause. Sie diskutieren bis in die späte Nacht, reden über den Freiheitskämpfer Cheng Nan-jung oder besprechen Protestaktionen. "Lin war ein guter Analytiker. Er dachte immer mehrere Schritte voraus und hatte gute Ideen, was wir als Nächstes machen könnten", sagt Gina. Sie wollen etwas verändern und glauben auch, sie könnten es.

Fast täglich geben sie Pressekonferenzen, gehen auf die Straße, verteilen Flyer an Schulen, flüchten vor der Polizei. Dann, eine Woche vor Lins Tod, dringen 20 Schüler nachts ins Bildungsministerium ein, verbarrikadieren sich im Büro von Bildungsminister Wu Se-hwa, schieben Möbelstücke von innen vor die Tür. Lin steht drinnen am Fenster, reißt die Arme in die Luft und brüllt: "Du kannst dich nicht länger vor uns verstecken, Wu Se-hwa! Weg mit der Reform!" Gina und die anderen schreien mit ihm. Für vielleicht 45 Minuten hat Lin das Gefühl, er könne seine Welt verändern, ja: verbessern. Dann stürmen Polizisten das Ministerium und legen den Jugendlichen Handschellen an. Lins Freilassung kostet 555 Euro.

Lin droht nun eine Anzeige. Er, Undercut-Haarschnitt, schwarze Brille, groß und trainiert, erzählt als Gast einer Talkshow, wie der Druck auf ihn wachse. Die Klassenlehrerin und der Direktor hätten ihn zu Hause aufgesucht: "Bist du bei klarem Verstand? Wie willst du später einen Job finden?" Er sei ein irrationaler Kindskopf, ein Nichtsnutz. Seine Mutter sagt ihm: "Was, glaubst du, wer du bist, dich zu erheben? Deine schulischen Leistungen rechtfertigen das nicht. Du bist ein Niemand." Der Moderator der Talkshow sagt in die Kameras: "Ihr Sohn ist mutig, Sie sollten ihm zuhören."

Lins Schule wurde von Chinesen gegründet, und seine Eltern seien chinahörig, erzählt Chen mit gepresster Stimme im Café. Folgen, nicht hinterfragen, die Gefühle kontrollieren. Lin war anders.

"Die jüngere Generation wurde mit Schulbüchern erzogen, die den chinesischen Nationalismus weniger und die taiwanische Identität stärker betonen", erklärt Professor Yu Shan Wu vom Politikinstitut der Academia Sinica in Taipeh. Der 57-Jährige ist Experte, wenn es um die Beziehung zwischen Taiwan und China geht. Er selbst lernte noch, so wie die Eltern von Chen, Gina und Lin, mit chinafreundlichen Lehrbüchern, gegen deren Wiedereinführung sich die Proteste richten und die Anfang der nuller Jahre zwischenzeitlich von der damals regierenden Demokratische Fortschrittspartei abgeschafft wurden. "Es ist offensichtlich, dass diese Unterschiede in den Lehrbüchern auch zu unterschiedlichen Auffassungen im Verhältnis zwischen China und Taiwan führen", sagt der Politologe Wu.

Als es die Schulbuchdiskussion in die Schlagzeilen schafft, sprechen viele von der Highschool-Version der Sonnenblumen-Bewegung. Die Sonnenblumen-Studenten hatten 2014 heftig gegen das Freihandelsabkommen mit China protestiert und Taipeh in einen Ausnahmezustand versetzt. Auch Lin war damals unter den Protestlern.

In der Anti-Curriculum Changes Alliance gehört er zum Kern der Bewegung. Aber selbst als diese von Medien und in der Gesellschaft wahrgenommen wird, lässt sich die Regierung nicht von ihrem Kurs abbringen. Sie nimmt die Alliance nicht ernst.

Lin, Chen und Gina erfahren, dass die Schulbücher längst gedruckt sind. Menschenrechtsanwälte, von denen die Aktivisten inzwischen beraten werden, sagen ihnen, die Reform ließe sich nicht aufhalten, der juristische Druck sei zu gering. Zu Gina und Chen sagt Lin manchmal, dass er daran denke, sich umzubringen.

30. Juli 2015, zwölf Uhr nachts, ein Facebook-Post von Lin ploppt gleichzeitig auf dem Telefon von Gina und Chen auf: "5, 8, 12, 16", HELP. Chen wählt sofort Lins Nummer. Sie reden bis zwei Uhr darüber, was sie an den kommenden Tagen machen könnten, welche Restaurants sie besuchen würden, ganz genau erinnert sich Chen nicht mehr. Zum Schluss sagt Lin: "Gute Nacht." Und Chen antwortet: "Bis dann." Am nächsten Tag berichten die Zeitungen von Dai Lins Suizid.

HELP. "Ich dachte erst, Lin braucht unsere Hilfe, aber er rief nach Unterstützung für die Schulbücher", sagt Gina.

Gegen acht Uhr abends desselben Tages ziehen Chen, Gina und Hunderte Schüler wieder vor das Bildungsministerium. Sie nennen Bildungsminister Wu Se-hwa, der in der Sache mit den Schulbüchern nicht einlenken will, einen Mörder. "Entschuldige dich und tritt zurück!" steht auf einem ihrer mitgebrachten Transparente. Sie singen "Happy birthday", denn noch ist Lins Geburtstag, sie zünden Kerzen an. Chen ruft: "Lin, kannst du das sehen?" Sie verbringen die Nacht auf dem Vorplatz des Ministeriums, schlafen nicht, schlagen Zelte auf, stellen Tische hin. Sie wollen bleiben.

Am 3. August erhalten sie eine Einladung von Wu Se-hwa. Es ist das erste Mal, dass er sich einem direkten Gespräch mit ihnen stellt. Im Blitzlichtgewitter betreten Gina und Chen den Konferenzraum, sogar Kaffee und Gebäck stehen bereit, als würde hier wirklich verhandelt.

Das dreistündige Gespräch wird live übertragen, man kann es auf YouTube anschauen. Vor der Bibliothek hat sich Taiwans Jugend versammelt. Drinnen auf dem Sofa sitzt Chen. Er trägt ein Shirt, auf dem steht: "An injury to one is an injury to all" – "Wer einen verletzt, verletzt alle". "Geben Sie uns nicht das Gefühl, gehasst zu werden", sagt Chen. Er fragt: "Stoppen Sie die Einführung der neuen Bücher?" Und fordert: "Lins Tod darf nicht umsonst gewesen sein." Der Minister rät ihnen, zurück in die Schule zu gehen und die Lehrer zu bitten, die alten Bücher zu benutzen. Chen sagt in die Kamera: "Es tut mir so leid, Dai Lin." Er weint. Der Minister ist ungerührt.

Am 16. Januar 2016 hat Taiwan eine neue Regierung gewählt. Die DDP, die sich für die Unabhängigkeit Taiwans einsetzt, hat einen deutlichen Sieg geholt, Tsai Ing-wen wird die erste Frau an der Spitze des Landes. Chen sagt: "Auch ich bin für die Unabhängigkeit Taiwans, aber das ist nur meine Meinung. Das soll kein Geschichtsbuch lehren." Aber diskutieren will er darüber können, keine politisch verzerrten Wahrheiten vorgesetzt bekommen. Er hofft, dass die neue Regierung die alten Geschichtsbücher wieder auf den Lehrplan setzt. Dai Lin, sagt Chen, werde er davon an dessen Grab erzählen.

Taiwan
EINE INSEL – ZWEI NATIONEN?
Ist die Insel abtrünnig? Oder hat sich das Festland abgespalten? Darüber streiten sich die Volksrepublik China und Taiwan, seitdem General Chiang Kai-shek 1949 mitsamt Anhängern seiner Kuomintang-Partei vor Maos Kommunisten auf die Insel floh. Während sich Taiwan in dieser Zeit von einer Militärdiktatur zu einer Demokratie entwickelt hat, gilt in dem Konflikt seit Langem der Status quo: Solange sich Taiwan nicht für unabhängig erklärt, greift China militärisch nicht ein. Eine Folge des Konflikts: Seit 1971 hat Taiwan auf Druck Chinas keinen Sitz bei den UN. Zudem unterhalten nur 22 Länder diplomatische Beziehungen zu der Insel.