Markus Gabriel sitzt auf einer schwarzen Ledercouch in seinem Büro an der Universität Bonn und blickt skeptisch auf eine Milchtüte. Er trägt ein dunkles Polohemd, einen blonden Undercut und einen Dreitagebart. Gabriel ist 34 Jahre alt - und gilt als der jüngste Philosophieprofessor Deutschlands. An der Uni Bonn ist er zuständig für Erkenntnistheorie, Feuilletonleser kennen ihn wegen seiner Philosophie des Neuen Realismus. Viel Seltsames ist über diese Philosophie zu lesen. Etwa dass es die Welt gar nicht gibt. Jetzt, wo Gabriel gerade mit der Milch beschäftigt ist, prüft er aber nicht, ob sie wirklich existiert. Sondern bloß, ob sie noch trinkbar ist. Das Haltbarkeitsdatum ist abgelaufen, Gabriel gießt vorsichtig einen Schluck in seinen Kaffee. Die Milch flockt nicht und ist folglich noch genießbar. Das Interview kann losgehen.
ZEIT Campus: Herr Gabriel, glauben Sie an Einhörner?
Markus Gabriel: Ja, unbedingt. Ich suche auch nach ihnen. Leider habe ich gerade viele meiner Beweisfotos verloren. Sie waren auf meinem Diensthandy gespeichert, das wurde mir auf dem Rückflug von Mexiko nach Bonn gestohlen.
ZEIT Campus: Oh, ärgerlich. Wie viele Einhörner gibt es?
Gabriel: Sie sind auffällig weit verbreitet. Es gibt unendlich viele von ihnen.
ZEIT Campus: Was ist mit Feen?
Gabriel: Die gibt es natürlich auch.
ZEIT Campus: Hexen?
Gabriel: Alles!
ZEIT Campus: Aber ausgerechnet die Welt, die gibt es laut Ihrer Philosophie des Neuen Realismus nicht. Klingt erst mal widersinnig.
Gabriel: Viele Menschen stellen sich die Welt als eine Art riesigen Behälter vor, in dem alles drin ist, die "Gesamtheit der Dinge" nannte das Wittgenstein. Ich hingegen glaube, dass es unendlich viele Behälter gibt, in denen ganz verschiedene Dinge drin sind. Diese Behälter nenne ich Sinnfelder.
ZEIT Campus: Können Sie dafür ein Beispiel geben?
Gabriel: Es gibt den Zeichentrickfilm Das letzte Einhorn. Da ist ein Einhorn drin. Es gibt das System der natürlichen Zahlen. Da ist die Zahl Sieben drin. Es gibt den Staatenbund der Europäischen Union. Da ist Deutschland drin, aber die Türkei zum Beispiel nicht.
ZEIT Campus: Was hat das mit Hexen und Feen zu tun?
Gabriel: Wir denken oft, dass es eine einzige Wirklichkeit gibt. Wir sagen: "In Wirklichkeit gibt es keine Feen, Hexen oder Einhörner." Wenn wir aber über Einhörner nachdenken oder Geschichten von ihnen erzählen, existieren sie zumindest in unseren Gedanken. Der Neue Realismus fragt: Warum sollte eine Existenz in Gedanken weniger real sein als eine Existenz im physikalisch ausgedehnten Universum? Ich denke: Real ist, was real ist. Also Gedanken, Wünsche, Ideen, Träume ...
ZEIT Campus: Ich habe mir als Kind immer vorgestellt, ich würde in einer Art Truman Show leben, wie in dem Film mit Jim Carrey: Es gibt einen Regisseur, der alles lenkt. Alle Menschen um mich herum sind Schauspieler. Alle sind eingeweiht. Nur ich nicht.