DIE ZEIT: Herr Deutschbauer, Sie befragen seit 20 Jahren Menschen über Bücher, die sie nicht gelesen haben - und sammeln ihre Antworten in einem Internetarchiv. Kommende Woche startet die Frankfurter Buchmesse. Geben Sie uns einen Tipp: Wie spricht man über ein Buch, von dem man nur den Titel kennt?
Julius Deutschbauer: Am besten sehr fantasievoll. Sie müssen ja gar nicht die Handlung referieren, sondern können eine eigene Geschichte erzählen, ihre Mutmaßungen über den Inhalt, ihre Vorstellungen vom Autor.
ZEIT: Sind wir alle Hochstapler, wenn es um Bücher geht?
Deutschbauer: Viele von uns, aber das ist nicht schlimm. Im Gegenteil: An Gesprächen über ungelesene Bücher ist vor allem spannend, dass ich die Menschen wirklich kennenlerne. Ich erfahre wenig von dem Buch - aber viel über die Projektionen und Träume meines Gegenübers. Im Verlauf der Gespräche werden meine Fragen immer persönlicher beantwortet. Inzwischen habe ich 800 Interviews über ungelesene Bücher gesammelt.
ZEIT: Was reizt Sie an diesen Erzählungen?
Deutschbauer: Es gibt so eine Art Kanon des Ungelesenen, der sich gar nicht so unterscheidet von den Lieblingsbücher-Listen. Auf 20 Leser von James Joyce' Ulysses kommen 20 Menschen, die über dieses Buch nur mutmaßen. Wenn man deren Interviews jetzt nebeneinander abspielen würde, kämen dabei sehr unterschiedliche Geschichten heraus. Diese Unterschiede zu untersuchen reizt mich.
ZEIT: Gibt es so etwas wie eine Hitliste der ungelesenen Bücher?
Deutschbauer: Das meistungelesene Buch ist die Bibel. Einmal habe ich Christoph Schlingensief gefragt, welches Buch er nicht gelesen hat. Da kam wie aus der Pistole geschossen: die Bibel. Er beschrieb sie als Kriegs- und Schelmenroman.
ZEIT: Die Plätze zwei bis fünf?
Deutschbauer: Musils Mann ohne Eigenschaften. Drittens Joyce' Ulysses. Viertens Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Dann wird es schon differenzierter: Platz fünf teilen sich Adolf Hitlers Mein Kampf und Das Kapital von Karl Marx.
ZEIT: Bitte, einen Satz über Musils Mann ohne Eigenschaften, den wir unseren Lesern für heikle Situationen mitgeben können.
Deutschbauer: Es gibt dieses tolle Kapitel, da dringt General Stumm in die Hofbibliothek ein und marschiert mit dem Doktor der Bibliothekswissenschaft die Buchreihen ab. Der General fragt den Bibliothekar, ob er die Bücher alle gelesen habe, und der antwortet: Natürlich nicht, aber genau deswegen kenne ich mich so gut aus.
ZEIT: Warum wollen alle über Bücher mitreden - aus purer Angeberei?
Deutschbauer: Ich kenne das von mir. Gerade wenn man den Ruf hat, Bücher zu lieben, glaubt man, Schritt halten zu müssen, Neuerscheinungen beurteilen zu können. In Wirklichkeit lese ich kaum Neuerscheinungen.
ZEIT: Lesen Sie eigentlich viel?
Deutschbauer: Ich halte es wie die Lyrikerin Friederike Mayröcker. In ihrem Buch brütt oder Die seufzenden Gärten kauft die Erzählerin jeden zweiten Tag Bücher, aber nicht, um sie zu lesen. Vielmehr saugt sie die Bücher an und fliegt wie so ein Schmetterling von einer Buchblüte zur anderen.
ZEIT: Sie raten zum Überblättern?
Deutschbauer: Oder dazu, eine Stelle im ersten Drittel oder die letzten Seiten aufzuschlagen. Einen Eindruck der Sprache kriegen. Das ist oft spannender, als das ganze Buch zu lesen.