Lettland gegen Litauen ist eigentlich ein nachbarschaftliches Prestigeduell. In Riga interessiert das Qualifikationsspiel für die Fußball-WM 2014 indes niemanden. Ein Besuch am unteren Ende der Fußball-Welt.
Es ist kein guter Tag für Balljungen. Gelangweilt steht der junge Mann im Trainingsanzug auf Höhe der Mittellinie im Skonto-Stadion von Riga und stützt seine Arme auf der Werbebande ab. Einen einzigen Ball darf er in 90 Minuten aus dem Seitenaus holen und einem Spieler der lettischen Fußball-Nationalmannschaft zuwerfen. Danach stellt er sich wieder an seinen vorgeschriebenen Platz. Ob ihm wohl kalt ist?
Nein, er könne nicht übersetzen, sagt der Ordner direkt neben dem Jungen und tippt nicht weniger gelangweilt auf seinem Handy herum. Auch sonst dürften keine Fragen während des Spiels beantwortet werden und von der Absperrung zum Spielfeld müsse man ein Sicherheitsabstand einhalten. Die Vorgaben und Regularien des Fußball-Weltverbandes erfordern also auch beim 2:1-Sieg des 119. der Fifa-Weltrangliste im Qualifikationsspiel für die Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien gegen die dreizehn Plätze besser geführten Gäste aus Litauen höchste Konzentration von allen Beteiligten.
Im dunklen SchattenLettland gegen Litauen - das ist das andere Ende der WM-Qualifikation. Es ist zwar kein Spiel zwischen Fußballexoten wie Andorra, San Marino oder den Faröer-Inseln. Doch es ist auf jeden Fall Fußball im dunklen Schatten der Strahlkraft internationaler Topteams wie Deutschland, Italien und Spanien.
Hier spielt der Vierte gegen den Fünften der Quali-Gruppe G und beide Mannschaften sind ohne jede Chance, sich für die WM im kommenden Jahr zu qualifizieren. Während zur selben Zeit 69.000 Menschen in der Münchner WM-Arena das Spiel der Elf von Joachim Löw gegen Österreich verfolgen, auch das Wembley-Stadion in London bei der Begegnung zwischen England und Moldawien mit über 60.000 Zuschauern gut gefüllt ist und in ganz Europa Millionen Fans vor den Fernsehern sitzen, versammeln sich in Riga nicht einmal 5000 Fans im Skonto-Stadion.
Das lettische Nationalstadion ist damit fast ausverkauft, wäre in Deutschland aber sogar vielen Regionalligavereinen zu klein. Es besteht im Grunde lediglich aus zweieinhalb Tribünen. Hinter dem einen Tor erstreckt sich eine Wiese, auf die es einige Zuschauer verschlägt, die keinen Eintritt zahlen wollen. Und auf der anderen Seite grenzt eine Sporthalle unmittelbar an das Spielfeld an. Dennoch wurde bis wenige Tage vor der Partie nicht einmal ein Drittel der Tickets verkauft; zusammenhängende Plätze auf der Haupttribüne sind auch direkt vor dem Spiel noch ohne Schwierigkeiten zu bekommen. Von Vorverkauf halten die Letten ungefähr genauso viel wie von Pünktlichkeit: Eine halbe Stunde vor Anpfiff sind die Tribünen so gut wie leer. Und auch beim Abspielen der Nationalhymnen sind viele Zuschauer noch auf der Suche nach ihren Plätzen.
Hinter Eishockey und BasketballUnter der Tribüne bietet ein Mann Trikots, Schals und Mützen auf einem Tapeziertisch zum Verkauf an. Viel wird er allerdings nicht los. Der Stand mit Bier und gebratenen Kartoffeln ist für die Anhänger deutlich interessanter. Bei der Ticketkontrolle wird weiter vorne in der Schlange russisch gesprochen, fünf Meter weiter stehen einige deutsche Touristen und auf der Gegentribüne sitzt eine größere Gruppe internationaler Studenten.
Generell sind die rot-weißen Farben der lettischen Flagge unter den Zuschauern im Stadion nicht wirklich verbreitet, vielmehr sind vereinzelt gelb-grüne Grüppchen von litauischen Fans zu sehen.
In der Liste der beliebtesten Sportarten rangiert der Fußball in Lettland weit abgeschlagen hinter Eishockey und Basketball auf dem dritten Platz. Wenn überhaupt, daran hat auch die sensationelle EM-Teilnahme 2004 mit dem 0:0 im Gruppenspiel gegen Deutschland nichts geändert. Zum Auftakt der in Osteuropa und Russland äußerst populären kontinentalen Eishockey-Liga (KHL) feierten am Donnerstagabend fast 10.000 frenetische Fans den 2:1-Sieg von Dinamo Riga über Dinamo Minsk.
Wahres „Derby" im BasketballUnd das wahre Derby zwischen den beiden baltischen Staaten fand in den Augen der Letten sowieso bereits zwei Stunden vor Anpfiff der Begegnung im Skonto-Stadion statt: Bei der Basketball-Europameisterschaft in Slowenien musste sich das lettische Team den Litauern 59:67 geschlagen geben. Die „Diena", die größte Tageszeitung im Land, berichtet darüber groß auf der Titelseite, das Fußballspiel ist dem Blatt nur eine kleine Meldung wert. Selbst nach einem der seltenen Siege wird deutlich, dass der Sport in Lettland nur eine Randerscheinung ist.
Während der Partie herrscht trotzdem gute Stimmung. Lettische und litauische Fans feuern ihre Teams lautstark an, in beiden Fanblocks werden zahlreiche pyrotechnische Feuerwerke entzündet. Die Letten, bei denen Stürmer Artjoms Rudnevs vom Hamburger SV der bekannteste Spieler ist, sind über die gesamte Spielzeit hinweg das bessere Team und gehen durch Treffer von Nauris Bulvitis (20.) und Arturs Zjuzins (42.) in Führung. Die Gäste aus Litauen erzielen durch Deivydas Matulevicius noch vor der Pause den Anschlusstreffer, bekommen in der zweiten Hälfte jedoch nur noch eine nennenswerte Chance zum Ausgleich und haben Glück, dass die Letten ihrerseits mehrere hochkarätige Möglichkeiten zur Entscheidung vergeben.
Nach dem Abpfiff jubeln die Fans kurz, die Spieler klatschen sich ab, dann gehen alle nach Hause. Keine Laola-Welle, keine Ehrenrunde. Der Balljunge vergräbt die Hände noch tiefer in den Taschen seines Trainingsanzugs und läuft über das Spielfeld in Richtung der Kabinen. Es scheint, als wäre in Lettland niemand daran interessiert, den Fußball aus dem dunklen Schatten herauszuholen.
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