Die SPD inszeniert ihren Kandidaten Martin Schulz in vier Akten. Es geht jetzt um große Gefühle, nicht um das Programm. von Sebastian Heinrich, MZ
Vilshofen.Es ist fast schon hinterfotzig, was sich Martin Schulz da gerade erlaubt hat. Er hat einen Zeitungsartikel zitiert. Dort sagt jemand, dass es Deutschland gut geht, aber dass viele Menschen Existenzängste haben. Und dass es darauf eine glasklare Antwort braucht. Dann hat Schulz ins Publikum gerufen: „Das hat Horst Seehofer gesagt!" Und dann: „Was macht der denn? Der gibt die Begründung dafür ab, warum es richtig ist, die SPD zu wählen!" Horst Seehofer macht Wahlkampf für die SPD. So hat Martin Schulz das gerade gesagt. Kurz blickt er auf von seinem Pult, blickt auf die Menschen unter ihm, an den Biertischen. Er sieht wie sie klatschen, hört, wie das Klatschen anschwillt zu einem Klatschrhythmus und wie die Rufe laut werden. „Martin, Martin, Martin!" Stehende Ovationen beim Politischen Aschermittwoch der SPD, für ein Zitat des CSU-Ministerpräsidenten.
Der Trick funktioniert auf jeden Fall. So wie fast alles funktioniert an diesem roten Aschermittwoch, bis ins kitschigste Detail: Kurz, bevor Martin Schulz, der Mann, den sie in sozialen Netzwerken scherzhaft „Gottkanzler" nennen, ans Pult tritt, bricht über Vilshofen die Sonne zwischen den Wolken durch und macht das ganze Bierzelt heller. Das hatte die SPD dann vielleicht doch nicht geplant. Aber auch ansonsten haben die Genossen richtig dick aufgetragen, bevor Schulz ans Pult tritt. „Der längste Stammtisch der Welt" sei das in Vilshofen, hatte Noch-SPD-Chef Florian Pronold am Vorabend gesagt. Dann, am morgen, ruft Christian Flisek, SPD-Bundestagsabgeordneter aus Passau, den 5000 Genossen im Zelt entgegen: „Das ist der größte Aschermittwoch aller Zeiten!" Das größte Zelt habe man, das leidenschaftlichste Publikum und die „besten Redner, die es überhaupt aufzubieten gibt!" Und überhaupt sei das hier ein „europäisches Hochamt", weil auch noch der österreichische Bundeskanzler Christian Kern da ist.
Aber das sind ja alles nur Aufwärmübungen.
Diesen ganzen Politischen Aschermittwoch, so scheint es, haben die Sozialdemokraten geplant als Theaterstück in vier Akten, bei dem alles ausgerichtet ist auf Akt nummer vier, das große Finale, die Rede von Martin Schulz. Akt eins: Der Vilshofener SPD-Bürgermeister Florian Gams und der Passauer Abgeordnete Flisek sprechen. Lokalkolorit, Grußworte an Genossen aus Niederbayern und Österreich. Akt zwei: Florian Pronold. Pronold, der den SPD-Vorsitz nach acht Jahren abgeben wird. Der nie wirklich glücklich wirkte in dieser Position - und der immer wieder seine liebe Not hatte mit der Basis. Pronold feuert ein paar Giftpfeile ab in Richtung Konservative, lästert über die „Zwangsehe" zwischen der CSU und der Merkel-CDU, wettert gegen christsoziale Sympathien für US-Präsident Donald Trump und Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban. Doch Pronolds Rede zieht nicht richtig, am Ende wabert Stimmengewirr über die Tische, Pronold sagt: „Wir müssen kämpfen", den Satz haspelt er fast.
An den Biertischen warten sie alle auf Martin Schulz. Sie, das sind auch rund 60 Genossen aus dem Raum Regensburg. So viele wie diesmal seien noch nie mitgefahren zum Politischen Aschermittwoch, sagt Fred Wiegand. Er ist Vorsitzender der SPD Regenstauf, Landkreis Regensburg. Seit 17 Jahren. Seit Jahren organisiert er die jährliche Aschermittwochs-Busfahrt der Genossen aus dem Raum Regensburg. Und noch nie, sagt Wiegand, hat er Menschen absagen müssen. Diesmal schon. Lina Bucher aus Regensburg, 91 Jahre alt und seit 63 Jahren SPD-Mitglied, glänzen die Augen, wenn sie von Martin Schulz spricht. „Das ist ein Mann, der auf jeden zugeht, mit jedem redet." Und dass ihn die Jungen so toll finden, das imponiert ihr. 2009 war Martin Schulz in Regenstauf, beim Pfingstfest. „Der hat mit den Jungs bei uns auf dem Rasen gekickt", erzählt Wiegand. „Wir haben ja viel durchmachen müssen als Sozialdemokraten", sagt er. Und jetzt sie mit Schulz einer da, der Mensch sei und nicht nur Politiker.
Das mit der Menschlichkeit zelebrieren sie heute so richtig bei der SPD. Akt drei des roten Aschermittwoch-Drehbuchs: Auftritt Christian Kern. Kern ist österreichischer Kanzler, Sozialdemokrat, jung, smart. Vor allem die letzten beiden Eigenschaften hebt er gern hervor. „Hier spricht die Vorband vom Martin Schulz", sagt der Wiener Kern mit einem Schmäh-Grinsen im Gesicht. Ein paar Minuten später, im Zelt ist es heißer geworden, zieht er sein Sakko aus. Die Genossen im Bierzelt johlen. Kerns Inhalte? Eine Rede über das große Ganze, also über Europa das sozialer werden muss, die EU, die gerettet werden muss vor Nationalisten, die Arme auf noch Ärmere hetzen. Ein bisschen langatmig, aber gut applaudiert. Dann ruft Kern seine Abschlussworte ins Zelt: „Prost Vilshofen!" Jetzt kommt Martin. Und links unten vor der Bühne stehen zwei Dutzend junge Genossen, schwenken rote SPD-Fahnen und rufen „Hoch - die - internationale Solidarität!" Einer reckt sogar die linke Faust nach oben. Ein Hauch 1968, und das für Martin Schulz, der doch Mitglied ist im Seeheimer Kreis, der als rechter Flügel der SPD gilt.
Und da steht er auch schon, Schulz, der Held, dem sie in der SPD momentan so ziemlich alles zutrauen. Er redet. Akt vier beginnt, im Bierzelt ist es still. Am Anfang stichelt Schulz ein bisschen, gegen die CSU und ihren Aschermittwoch. Dort sei die „gefühlte Mehrheit", hatte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer gesagt. „Herzliche Grüße an die gefühlte Mehrheit von der realen Mehrheit", ruft er. Dass die Roten mal an einem Tag vor den Schwarzen liegen in Bayern, das muss er schon noch einmal feiern. Später kommen noch ein paar Spitzchen gegen die Orban-Einladungen der CSU und gegen die miteinander verkrachten Unionsparteien. Aber ansonsten hält sich Schulz zurück mit Attacken, er sagt sogar diesen Satz: „Auch im Bierzelt wird aus dem politischen Mitbewerber kein Feind!"
Schulz setzt eigene Schwerpunkte. Vier große Bereiche berührt er in seiner Rede, die knapp fünfzig Minuten dauert: Europa, den Kampf gegen Rechtspopulisten, soziale Gerechtigkeit - und die Sache mit den Gefühlen. Zu den ersten drei Themen sagt er, kurz gefasst, das: Die EU muss verteidigt werden, damit es keinen Krieg mehr gibt, doch sie muss solidarischer werden; die Demokratie ist in Gefahr, die SPD ist das Bollwerk gegen Rechtsaußen; Deutschland muss gerechter werden, der Staat muss mehr investieren, die hart arbeitenden Menschen verdienen mehr Respekt.
Und dann kommt der gefühlige Teil. Schulz wird leiser. Er spricht von seinem eigenen Leben. Von seiner gescheiterten Fußball-Karriere, von seiner Krise, aus der er sich befreit hat. Er spricht von jungen Menschen, die 150 Bewerbungen schreiben, aber keinen Job bekommen; von Arbeitnehmern, deren Betrieb bald schließt und die nicht schlafen können. Von jungen Erwachsenen, die heiraten möchten, aber nur befristete Arbeitsverträge bekommen und nicht planen können. Und dann fragt er ins Publikum: „Können wir das nachvollziehen?" „Ja", rufen ein paar zurück.
Was Schulz nicht liefert, an diesem außergewöhnlichen Aschermittwoch: konkrete Vorschläge. Nicht der Hauch eines Regierungsprogramms. Das soll erst kommen, im Juni, das hat er Journalisten erzählt. Hier und heute in Vilshofen zählen die Show und das Gefühl. Fünfeinhalb Minuten lang applaudieren sie Martin Schulz am Ende. Anderthalb Minuten waren es vor zwei Jahren für Sigmar Gabriel gewesen. Fred Wiegand aus Regenstauf sagt später, der Teil mit Schulz' Lebensgeschichte, der habe ihn berührt. Bei Wiegand glänzen die Augen jetzt auch ein bisschen.
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