Millionen fahren auf der Brennerautobahn in den Süden - vorbei an Orten und Menschen, die diese Straße geprägt hat. Von Sebastian Heinrich, MZ
Die Sehnsucht nach dem Süden hat Maria Hilbers Leben ruiniert. Die betongewordene Sehnsucht nach dem Süden. Ein Stück davon steht hinter ihrer Küchentür: Ein Betonpfeiler ragt hinter dem Balkon, gleich neben einem Ahorn- und einem Kirschbaum, fünfzig Meter in die Höhe. Auf ihm sechs Fahrbahnen, von denen der Verkehr herunter grollt - wie ein Wolkenbruch, bei dem es immer wieder donnert, wenn ein Lastwagen vorbeifährt. 70 Dezibel, so laut wie ein Haartrockner. Der nie ausgeht.
Vor Hilbers Haus im Tiroler Ort Steinach am Brenner steht die Gschnitztalbrücke, 674 Meter kurzes Glied der Autobahn A13, des österreichischen Teils der Brennerautobahn. Für Millionen Deutsche der Highway in den Urlaub, für die Menschen hier im Wipptal seit Jahrzehnten eine Qual. Seit 1971 donnert der Verkehr an Maria Hilbers Haus vorbei. Damals begann es mit 1000 Lkw pro Jahr. Heute sind es 35 000 Fahrzeuge. Pro Tag.
Ausfahrt Steinach: die qualvolle Seite der Sehnsucht aus BetonEs ist nicht nur der Lärm. Im Winter schleudern die Laster eine hellgraue Brühe aus Schneematsch und Streusalz an ihre Fenster. Als Arbeiter die Beschichtung der Metallträger zum ersten Mal entfernen, rieselt schwarzer Staub auf die Wiese, die Beete, die Pflanzen im Garten: Sandstrahlgut und die Brücken-Beschichtung selbst - aus giftigem Bleimennige. Im Urin von Hilbers Kindern messen Ärzte jahrelang erhöhte Bleiwerte, das Gesundheitsamt erklärt das Obst aus ihrem Garten für ungenießbar.
„Es ist ein verpfuschtes Leben", sagt Maria Hilber und schüttelt ihre nackenlangen, weinrot gefärbten Haare. 82 Jahre ist sie alt. Sie hat sich das Leben an der Autobahn nicht ausgesucht. Als sie vor fast fünf Jahrzehnten mit ihrem Mann hierher zog, wurde die Autobahn gerade geplant. Die Hilbers kauften sich ein Grundstück weit weg von der Trasse, die die Ingenieure oben am Hang mit Stöcken markiert hatten.
Nachdem sie in ihr Haus gezogen waren, gruben Bautrupps unter ihrem Garten eines Tages riesige Rechtecke im Gras aus. Für Brückenpfeiler. Maria Hilber verstand die Welt nicht mehr. Sie fuhr nach Innsbruck, man scheuchte sie von Büro zu Büro. Bis sie vor Eduard Wallnöfer saß, dem Tiroler Franz Josef Strauß, der das Land von 1963 bis 1987 regierte. Wallnöfer sagte: „Jemand muss den Nachteil haben, damit wir schneller zum Viertele Wein nach Südtirol kommen."
Ein Satz wie ein ausgestreckter Mittelfinger. Ein Satz, der Maria Hilber zur Kämpferin werden ließ. Sie gründete eine Bürgerbewegung, später die Initiative „Lebenswertes Wipptal". Sie fuhr nach Brüssel, nahm an Autobahn-Blockaden teil. Bei der größten im Jahr 1998 legten 7000 Menschen die Brennerautobahn still. Im selben Jahr trat das Schengen-Abkommen in Kraft, das die Grenzen komplett öffnete. Seither grollt es immer lauter von der Brücke über Maria Hilbers Kopf.
Das grenzenlose Europa hat auch 20 Autobahnkilometer weiter südlich viel verändert. Hier liegt Brenner, italienisch Brennero, die erste Ortschaft in Südtirol, am Brennerpass. Brenner erstreckt sich an zwei Einbahnstraßen, die an einem verwitterten Grenzstein beginnen, auf dem „Italia" steht. In Richtung Rom führt die Sankt-Valentin-Straße. An ihr liegen, rechterhand, ein dreistöckiges Wohnhaus, Unbewohnt, danach die „Bar Buffet Terminus", dann noch zwei verlassene Häuser, dazwischen eine Kappelle und ein Imbiss. Auf der anderen Straßenseite nur ein Gebäude, mit rot-weiß-grauen Außenwänden und einer Fensterfront. „Designer Outlet Brenner" steht in weißen Lettern auf der Fassade.
Ausfahrt Brenner: Der Grenzort will ohne Grenze überlebenKaum ein zweiter Ort in Europa hat so vom Stehenbleiben an der Grenze gelebt. Bis 1918 bestand Brenner nur aus ein paar Gasthöfen. Dann wurde Südtirol italienisch. Mit den Schlagbäumen kamen die Zöllner, die Eisenbahner, die Spediteure. Der Ort wuchs.
Als ab den fünfziger Jahren die deutschen Touristen nach Italien zu strömen begannen, wurde Brenner für sie zur Wegmarke, zum Sehnsuchtsflecken. Auf der Hinfahrt tranken sie im „Terminus" ihren ersten Cappuccino. Auf der Rückfahrt gaben sie die letzten Lire aus, tankten voll, kauften kiloweise Textilien und schmuggelten sie über die Grenze. Italien war Billig-Land. Brenner wuchs weiter, 1979 wohnten hier 1000 Menschen.
Franz Kompatscher, Jahrgang 1956, arbeitete in den siebziger Jahren an einer der drei Tankstellen im Ort. Jetzt ist Kompatscher Bürgermeister der Gemeinde Brenner. Es gibt hier keine Tankstellen mehr, weil das Benzin in Österreich gut 30 Cent billiger ist. Und seit 2002 hat keiner mehr Rest-Lire zum Ausgeben. Im Brenner des Jahres 2014 wohnen etwa 250 Menschen, viele von ihnen Einwanderer aus Pakistan oder Tunesien. Es ist viel darüber geschrieben worden, dass der Grenzort Brenner langsam stirbt, seit die Grenze weg ist. Aber das stimmt nicht.
Heute, an einem diesig-grauen Dienstag, sind um 10 Uhr alle Parkplätze im Ort belegt. Im „Designer Outlet Brenner", dem 2007 eröffneten Riesen-Einkaufszentrum mit 60 Geschäften, schlendern Besuchergrüppchen durch die Ladengassen. Die „Lokomotive im Ort" nennt Bürgermeister Kompatscher das Zentrum.
Viele Händler in Brenner, sagt Kompatscher, profitierten vom DOB. „Halbe halbe" sei das so, meint Sieglinde Mayr, die in einer Bäckerei hinter dem Outlet arbeitet. Zu ihr, in die Restaurants und Weinläden, kommen im Minutentakt Gäste. Die Kleidungsgeschäfte außerhalb des DOB sind leer.
Drei Wohnhäuser im Ort werden gerade renoviert. 2025, sagt Kompatscher, soll Brenner ein „Rastdorf" sein. An dem Reisende gerne anhalten, in dem junge Familien wohnen, weil die Miete hier günstiger ist als in Bozen oder Innsbruck. Ein multikultureller Grenzort im grenzenlosen Europa, 1300 Meter über dem Meeresspiegel.
Ausfahrt Bozen: Was von der automobilen Utopie bleibtAm Brennerpass beginnt die A22, italienischer Teil der Brennerautobahn. 77 Kilometer sind es von hier bis Bozen, der Hauptstadt Südtirols. Sie führen durch Tunnels und über Brücken mit Ausblick auf den türkisen Fluss Eisack, auf Burgen und Weinberge.
1974, als in Südtirol der letzte Teil der Brennerautobahn fertig wurde, kam dieser Landstrich gerade aus einem blutigen Konflikt. Sieben Jahre zuvor hatte es noch Tote gegeben, weil Südtirol auch Jahrzehnte nach der Annexion nicht italienisch sein wollte. 1972 war das „Südtirol-Paket" in Kraft getreten, das Autonomie und Zweisprachigkeit garantierte. Wirklich riechen konnten sich Tiroler und Italiener trotzdem nicht.
Die Brennerautobahn aber sehnten alle herbei: Für die Deutschsprachigen sollte sie die Nabelschnur zu Nordtirol sein, für die Italiener der Anschluss an die Boomregionen in der Poebene - und beide Volksgruppen wollten an den Urlaubern aus Deutschland verdienen. Die Brennerautobahn sollte viel bewegen. Das Bayerische Fernsehen übertrug damals den Dokumentarfilm „Brücke über die Alpen". Regisseur Otto Guggenbichler schwärmte von einer „euro-afrikanischen Verkehrsader", zu der diese Autobahn mit ihren „Brücken für unseren gemeinsamen Kontinent" bald gehören sollte.
Hans Heiss war 22, als die A22 fertig wurde. Heiss, gebürtiger Brixener und heute einer der bedeutendsten Historiker Südtirols, bretterte mit seinen Freunden die Autobahn-Abschnitte auf und ab, noch bevor sie eröffnet wurden. „Die Brennerautobahn", sagt Heiss, „hatte eine absolut positive Ausstrahlung." Sie verkörperte den Fortschritt, den Südtirol ersehnte: eine bitterarme Region, in der es in den meisten Bergbauernhöfen weder Strom noch fließendes Wasser gab.
Vom Objekt der Begierde zum notwendigen Übel40 Jahre später ist Südtirol die Region mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen und der niedrigsten Arbeitslosenquote Italiens. Und die Brennerautobahn ist der Verkehrsweg, über den die Gäste in die Region kommen und Äpfel und Wein aus ihr hinaus.
Die Liebe der Südtiroler zu ihrer Autobahn aber ist eingerostet. Feinstaub und Lärm setzen den Anwohnern so zu wie denen in Nordtirol. Viele sehen die A22 nur noch als notwendiges Übel. Wie Josef Kusstatscher, Verkehrsexperte und Sprecher der Grünen. Kusstatscher kann sich in Rage reden über die A22 - und über die billige Maut, die sie zur Lieblingstrasse der Spediteure macht.
Ein Symbol für Völkerverbindung sieht in Südtirol kaum einer mehr in der Straße, auf der sich zigtausende Fahrzeuge täglich an Bozen vorbeiwälzen. Nur so viel bleibt: Der typische Südtiroler Wochenendausflug führt heute zu IKEA nach Innsbruck. Über die Brennerautobahn, natürlich.