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"Schriesheim jazZt" stellt die Fußball-WM in den Schatten

Von Sebastian Blum


Schriesheim. Zum ersten Mal in seinem Leben sitzt Holger aus Angelbachtal im Evangelischen Kirchengarten. Die Bratwurst schmeckt ihm gut. Die Häuser passen zur Musik, die kleinen Gässchen zum Flair, sagt er. Seine Frau sitzt neben ihm und streckt die Arme in die Luft. Jedoch nur wegen des Sohnemanns. Der Fünfjährige hat nämlich einen Sound entdeckt. Jazz. Und er tanzt so ungeniert zum Sound von "Gordon Blue", als hätte er nie etwas anderes gekannt.

Überall schunkeln Damen in bunter Sommermontur. Herren in aufgeknüpften Hemden schnipsen mit den Fingern. Über 1250 Besucher: Die Gassen sind voll, die Getränke eiskalt, das Wetter hat es gut gemeint. Auf sechs Bühnen in der Innenstadt verteilt, zeigt Schriesheim beim "jazZt 2018", wieso ein amerikanisches Musikexperiment in einer deutschen Weinstadt ankommt. Herzblutmusiker und ausgezeichnete Virtuosen aus der Region treffen den badischen Sommer, da kann Kroatien noch so viele Elfmeter verwandeln. "Die WM spielt heute die zweite Geige", hat schon Bürgermeister Hansjörg Höfer zu Beginn prophezeit.

Und so kommt es. Die erste Geige spielt Anne Czichowski, die den organisatorischen Aufwand am Samstagabend mit ihrer Stimme krönt, wie es einer Jazz-Preisträgerin gebührt. Drei Töne ins Mikrofon gehaucht, kann sie im prall gefüllten Strahlenberger Hof musikalische Maßstäbe nur noch neu definieren. "Ich bin auf der Durchreise", sagt eine blonde Dame beim Hinausgehen, als sie ihr leeres Glas am Schanktisch abstellt, derweil akribisch in den Spielplan vertieft. Weiter geht's in die Oberstadt, wo die Band Zigan Six einen frechen Stepptanz fordert, animiert vom grandiosen Nick Gordon.

Der Sänger beichtet gegenüber der RNZ, dass es innerhalb der Band einen medizinischen Notfall gab. Mit dem Resultat, dass sich die Musiker auf der Bühne teilweise zum ersten Mal sehen. Im Publikum bemerkt das keiner. "Unser drittes Set müssen wir in der Pause planen", sagt Gordon ohne einen Anflug von Nervosität. Seine Stimme strotzt, doch der allemal ungeprobte Auftritt wird von einem weiteren Notfall unterbrochen.

Das Deutsche Rote Kreuz hatte bis dahin einen ruhigen Abend. Doch während Zigan Six eine ruhigere Nummer im Sitzen spielen, bricht der Akkordeonist der Band vor der Bühne zusammen. Notärzte kämpfen sich durch die Menge. Doch rasch bildet sich eine Rettungsgasse, von der sich alle Autofahrer auf Deutschlands Straßen eine Scheibe abschneiden können. Binnen weniger Minuten ist der Akkordeonist auf einer Trage, nach ein paar Schluck Wasser geht es ihm besser. Zum Zeichen seiner Genesung lächelt er schwach. Er gibt Nick Gordon einen Handschlag. Die Menge applaudiert.

Es ist genau diese "Einstellung der Leute", die zwei rumänische Einwanderer an diesem Abend schätzen. Mit ihren Familien stehen sie abseits der Bühne vor dem Zehntkeller und trinken Bier. "Bevor Leute hier eine Zigarette auf den Boden werfen, suchen sie einen Mülleimer", beschreibt Florentin, was für ihn "Einstellung" ist. En Haufe Leit spielen den beliebten Dixieland-Sound. Aber für Florentin ist die Bühne weniger interessant als die Menschen, die vorbeilaufen. Deutsch will er lernen, und zwar schnell. Bevor er zum Goldenen Hirsch aufbricht, sammelt er seine Familie ein.

Dort, in einem Hinterhof der Heidelbergerstraße, spielen Peter Lehel und sein Quartett eine ruhige Jazz-Nummer, die für die Rumänen noch mal zeigt, wie schön es Menschen in Schriesheim haben. Doch nun gähnen die Kinder, und "Schriesheim jazZt" macht in diesem Jahr zum ersten Mal früher Schluss.

Es ist 23.30 Uhr, nach einigen Zugaben haben auch Zigan Six in der Oberstadt ihr Set beendet. Leute sitzen noch immer an den Bierbänken vor dem Alten Rathaus und reden, witzeln und lachen, während die L.A. Reed Bigband ihr Instrumentenarsenal abbaut. Der Swing auf dem Marktplatz findet an diesem Sommerabend jedoch auch nach Mitternacht kein Ende.

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