MEDIENDIENST: Herr Nolasco, Portugal hat sich Mitte Mai bereit erklärt, 500 minderjährige Flüchtlinge aus griechischen Camps aufzunehmen. Wurde der Schritt in der Regierung lange diskutiert?
Carlos Nolasco: Nicht wirklich. 2015 gab es einen Richtungswechsel in der portugiesischen Politik. Während die Vorgängerregierung versuchte, die Zahl der Flüchtlinge auf ein Minimum zu reduzieren, vertritt die seit 2015 regierende sozialdemokratische Partido Socialista (PS) einen anderen Ansatz. Man wirbt für die Aufnahme von Flüchtlingen, aber auch für Migration im Allgemeinen.
Nolasco: Das hat viel mit der Geschichte Portugals als Aus- und Einwanderungsland zu tun. Es begann in den 1950ern. Portugal war unter der Diktatur von António de Oliveira Salazar verarmt. Mehrere Millionen Portugiesen verließen das Land, die meisten gingen nach Frankreich, Deutschland und die Schweiz. Teilweise wanderten ganze Dörfer aus. In den 1970ern und 1980ern kam dann die Kehrtwende. Die ehemaligen afrikanischen Kolonien, darunter Mosambik und Angola, waren unabhängig geworden. Allein 1974 und 1975 kamen über 500.000 Menschen ins Land, darunter ehemalige weiße Siedler, aber auch schwarze Menschen. Einige hatten für portugiesische Institutionen im Land gearbeitet, waren nun Anfeindungen ausgesetzt und mussten fliehen; andere gingen aus wirtschaftlichen Gründen. In den 1980ern kamen dann viele Menschen aus Brasilien nach Portugal, in den 1990ern aus Osteuropa, vor allem aus der Ukraine. Zu dieser Zeit festigte sich auch die Einsicht, dass Portugal nicht nur ein Auswanderungsland ist. Sondern eben auch ein Einwanderungsland.
Nolasco: Ja. Und die Auswanderung nach der Krise traf Portugal besonders hart. Es waren vor allem junge Menschen, gut ausgebildet, die gingen. Ich selbst habe damals Pflegefachkräfte in Sozialwissenschaften unterrichtet. Fast alle meine Schülerinnen und Schüler sind nach ihrem Abschluss zum Arbeiten ins Ausland gegangen. Diese Entwicklung hat in den letzten Jahren nicht wirklich aufgehört. Man geht davon aus, dass derzeit fünf Millionen Portugiesinnen und Portugiesen im Ausland leben. Das Land selbst hat zehn Millionen Einwohner.
Nolasco: Nicht nur. Vor ein paar Jahren gab es einen Bauboom in Portugal, da wurden viele Arbeiter aus dem Ausland gebraucht. Das ist inzwischen abgeebbt. Der positive Blick auf Migration aber ist geblieben. Eine OECD-Umfrage aus dem vergangenen Jahr ergab, dass 60 Prozent der Portugiesinnen und Portugiesen Migration positiv sehen. Das war die vergangenen Jahre, mit leichten Variationen, auch schon so. Sie sehen Migration nicht nur positiv, weil sie zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes beiträgt, sondern auch, weil sie das Land kulturell bereichert. Im Süden Portugals etwa arbeiten inzwischen viele Menschen aus Indien, China und Pakistan in der Landwirtschaft. Sie sind oft gut in die Gemeinden integriert.
Nolasco: Es gibt natürlich auch Menschen in Portugal, die Migration skeptisch sehen. Und es gibt auch in Portugal Rassismus. Das Problem ist: Der Rassismus wird von vielen Portugiesen nicht als solcher wahrgenommen. Grund dafür ist die Ideologie des „Lusotropikalismus", sie zirkuliert im Land seit den 1950ern. Als einer der letzten europäischen Staaten hielt Portugal damals an seinen Kolonien fest. Die Regierung rechtfertigte das, indem sie behauptete, dass man besser mit den Bewohnern der Kolonien umgegangen sei als andere Kolonialmächte. Dabei ist Kolonialismus natürlich immer gewaltsam. Und doch stärkte es den Glauben, dass Portugiesen nicht rassistisch sind - und der steckt bis heute in den Köpfen. Das macht es auch so schwer gegen den Rassismus - der durchaus im Land existiert - vorzugehen.
Nolasco: Es ist zum einen leichter geworden, die Staatsbürgerschaft zu erlangen, etwa im Rahmen spezieller Visa-Programme. Zum anderen wird viel Wert auf Gleichbehandlung gelegt. Der portugiesischen Regierung ist es wichtig, dass Zugewanderte und Einheimische den selben Zugang zum Gesundheits- und Schulsystem haben wie Einheimische. Im Zuge der Corona-Pandemie etwa hat die Regierung allen ausländischen Staatsangehörigen, die eine Aufenthaltsgenehmigung oder Asyl beantragt haben, dieses bis 1. Juli gewährt. Eine Ausnahmeerscheinung in Europa.