In Deutschland stehen sich Wolfsbefürworter und -gegner unversöhnlich gegenüber. Ein Streit mit undurchsichtigen Fronten, besonders jetzt im Wahlkampf.
Mitten in der Bewegung bleibt
André Pfeiffer plötzlich stehen, tippt mit seinem braunen
Trekkingschuh gegen eine kleine Pflanze auf dem Waldboden; ein graues
Büschel hängt daran, vielleicht fünf Zentimeter lang. „Fell“,
sagt Pfeiffer in ruhigem, bestimmtem Ton. „Von einem Wolf, ganz
sicher“.
Etwa
20 Menschen scharen sich um ihn. Fotoapparate hängen um ihre Hälse,
Ferngläser. Ein paar Rentnerinnen sind dabei, eine
Verwaltungsangestellte mit ihrem Sohn, drei Studenten, extra
angereist aus Berlin.
Der
BUND hat an diesem Samstag zu einer Wolfsexkursion in die Slamener
Heide, südliches Brandenburg, geladen. Pfeiffer, 52, ehrenamtlicher
Wolfsbeauftragter aus Spremberg, ein sportlicher Mann in rustikaler
Outdoor-Wear mit der gesunden Gesichtsfarbe eines Menschen, der viel
im Freien ist, ist ihr Guide.
Sieben
Stunden führt er die Gruppe durch den Forst. Referiert im Plauderton
über das Jagdverhalten der Wölfe, ihre Nahrungssuche, über
Parallelen zum Hund, und immer wieder über ihre Bedeutung für das
Ökosystem Wald.
„Der
Wolf“, sagt Pfeiffer, „sucht sich instinktiv leichte Beute.
Tiere, die krank, verletzt oder schwach sind.“
„Der Wolf“, sagt er, „reguliert dadurch das Wild.“
Ob es gut ist, dass er wieder da ist?
„Auf jeden Fall.“
Rund
200 Jahre lang war der Wolf in Deutschland so gut wie ausgestorben.
In Osteuropa hielt er sich, vor allem in Rumänien und im Baltikum.
In der DDR wurde er, sobald er von Polen über die Grenze kam,
geschossen. Aus Westdeutschland hielt ihn die Mauer fern. Mit der
Wende änderte sich das. Der Wolf stand jetzt unter Naturschutz. Im
Jahr 2000 siedelte sich das erste Rudel in Sachsen an, sechs Jahre
später in Brandenburg.
38 Rudel gibt es laut BUND heute im Bundesland, mit zwischen zwei und
zehn Tieren. Mehr als im Rest Deutschlands.
Das
gefällt nicht jedem. Es genügt, eine brandenburgische Zeitung
aufzuschlagen, um das zu verstehen. Man liest von Wölfen, die im
Blutrausch ganze Schafherden niedermetzeln, von Landwirten vor dem
Ruin, von Kindern, die sich nicht mehr in den Wald trauen. Und auch
in der Politik ist das Thema angekommen.
In
Lübbenau, im Spreewald, wirbt die CDU mit dem Slogan: „Zuerst der
Mensch, dann der Wolf.“ Und fordert, ihn ins Jagdrecht aufzunehmen,
was nichts anderes hieße als: Man könnte ihn dann schießen. Teile
der Partei sprechen sich gar für eine Obergrenze für Wölfe aus.
Ebenso
die AFD. Die arbeitet in Sachsen mit Fotomontagen, in die sie Wölfe
und Kinderspielzeug ins Bild retuschiert. Im Bundestag hielt der
AFD-Abgeordnete Karsten Hilse eine Rede,
in der er die Ausbreitung des Wolfes ein „unverantwortliches,
folgenschweres Experiment“ nannte – und es in Verbindung zur
„großen Transformation“ setzte. Ein Begriff, der Merkels
Migrationspolitik meint, und nur eine Nuance vom „Großen
Austausch“ entfernt ist; jenem Kampfbegriff der Neuen Rechten, auf
den sich unter anderem der Attentäter von Christchurch bezog.
Erst
die Flüchtlinge, jetzt der Wolf. Das Synonym für alles Dunkle und
Böse auf der Welt?
Ist das Panikmache oder berechtigte Angst?
Oder geht es auch noch um etwas ganz anderes?
Wer dieser Vermutung nachgehen will, muss mit Menschen sprechen, die schlechte Erfahrungen mit dem Wolf gemacht haben. Zum Beispiel mit Jürgen Frenzel.
130
Kilometer von der Slamener Heide entfernt, in einem abgelegenen
Gehöft, zieht Frenzel, 67, einen Ordner aus dem Schrank seines
kleinen, zugestellten Büros. Er ist Landwirt in Dobbrikow bei
Luckenwalde; zwei Kuhherden hat er, 170 Mutterkühe insgesamt. Sie
grasen draußen vor seinem Fenster.
Frenzel
spricht mit leiser, brüchiger Stimme, fährt sich oft mit der Hand
über die Stirn. Müde wirkt er, abgekämpft. Ein ruhiger aber
herzlicher Mann, der seinen Kälbern Namen gibt.
Er
schluckt, dann öffnet er den Ordner. Fotos sind darin: Abgerissene
Vorderläufe, aufgebrochene Brustkörbe, aufgerissene Kehlen auf
blutverschmierten Wiesen.
„Man
sieht das schon, wenn man morgens auf die Weide kommt“, sagt er.
„Stehen die Kühe zusammengedrängt in der Ecke, ist klar: Nachts
war der Wolf wieder da.“
Über
50 Mal habe er bei ihm zugeschlagen. Sechs Rinder verlor er 2017, 41
im Jahr 2018, zehn in diesem Jahr. 25.000 Euro Schaden ingesamt. Der
Haken: Ihm wurde nur die Hälfte erstattet. Weil er nicht immer
nachweisen konnte, dass es der Wolf war.
Es
ist eines der Hauptprobleme in der Diskussion um das Tier: Der Wolf
kommt nachts, verschleppt seine Beute meist, bei großen Herden fällt
das oft erst später auf. Und auch wenn man die Überreste findet:
Kann man sicher sein, dass er es wirklich war? Vielleicht waren das
Kalb oder das Schaf schon tot? Ein Gutachter muss diese Fragen
klären, an seinem Urteil hängt die Erstattung.
Für
den Schutz der Weidetiere gibt es dabei Standards: Ein Zaun, 90
Zentimeter hoch, fünf Drähte, Dauerstrom.
Wer die Auflagen erfüllt, bekommt seine Tiere im Schadensfall
ersetzt. Seit Juni werden die Kosten für den Zaun komplett von Land
und Bund übernommen.
Aber
Frenzel glaubt nicht an den Zaun.
Da
sind die Unebenheiten des Bodens, sagt er, der kurze Moment, in dem
der Stromfluss aussetzt. „Der Wolf ist schlau, der nutzt das aus“.
Bei Hunden habe er das beobachtet, die seien einfach zwischen den
Drähten durchgesprungen. Warum, fragt Frenzel, sollte es beim Wolf
anders sein? Das einzige, das helfen würde, wären drei Meter hohe,
engmaschige Zäune. Aber die würden die Landschaft verschandeln.
„Und wer will das schon?“
Doch
je länger man diesem Mann zuhört, in diesem kleinen, abgelegenen
Büro, desto mehr dämmert es einem, dass es hier um mehr geht als um
tote Tiere. Die Geschichte des Wolfes und des Umgangs mit ihm, sie
ist auch eine Geschichte von verletztem Stolz.
„Früher“,
sagt Frenzel, „waren wir als Landwirte angesehen. Heute aber werden
wir an den Rand der Gesellschaft gedrängt.“ Klimawandel,
Insektensterben, Massentierhaltung – für alles, sagt er, soll nun
der Bauer verantwortlich sein. Und jetzt lasse die Politik sie auch
noch mit dem Wolf allein. Keiner interessiere sich, niemand höre zu,
die Entschädigungsregeln seien viel zu bürokratisch. „Wenn die
Gesellschaft den Wolf will, ist das schön und gut“, sagt Frenzel.
„Aber es kann nicht sein, dass wir Landwirte allein dafür zahlen.“
Drei
Dörfer weiter, in Stücken, setzt sich Jens Schreinicke auf die
Terrasse seines Bauernhofes. Schreinicke, 47, CDU-Stellvertreter im
Ortsverband, ein gemütlicher Mann von robuster Statur, hält auch
Milchkühe, 100 Stück. Auch ihn hat es erwischt, im März. Ein Kalb.
Eines Morgens war es verschwunden, die Mutterkuh hatte Rissspuren und
Blut an den Ohren, stand tagelang am Rand der Weide, blökte, weil es
das Kalb suchte, in den Wald hinein. Jetzt setzt auch Schreinicke den
5-drahtigen Zaun. Widerwillig, und nur um die Auflagen zu erfüllen.
Auch er glaubt nicht daran.
Bei
ihm hat man aber das Gefühl: Er sieht die Maßnahme auch aus anderen
Gründen nicht ein. 25 Jahre lang habe er seine Rinder mit zwei
Reihen Draht geschützt, sagt er. Nichts sei passiert. „Und jetzt,
wo der Wolf wieder da ist, muss ich aufrüsten?“ Über Jahre hätten
Naturschützer freie Flächen gefordert, um die offenen Landschaften
zu erhalten. „Und jetzt wollen sie plötzlich einen Zaun?“
Sein
Vater stößt dazu, ein Fleischer. Kommt aus dem Quergebäude, wo er
gerade ein Schwein zerlegt. Ein 71-jähriger, stämmiger, sehr
wütender Mann.
„Die
Politiker haben uns jahrelang ignoriert“, schreit er. „Und jetzt
hetzen sie uns den Wolf auf den Hals?“ Dann erzählt er von Müttern
im Dorf, die Angst hätten, ihre Kinder in den Wald zu lassen. Von
Nachbarn, die nachts nicht mehr auf die Straße gehen. „Und alles,
weil die Städter denken, der Wolf sei ein tolles Tier?“
Der
Konflikt um den Wolf, er ist auch ein Konflikt zwischen Stadt und
Land, zwischen „denen da oben“ und den Menschen hier. Zwischen
den Beamten in Potsdam und Berlin, die seiner Ansicht nach fünf Tage
die Woche in ihren Büros sitzen, während sie, die Bauern, 365 Tage
im Jahr auf dem Feld stehen.
„Ganz
ehrlich“, sagt der Mann. „Ich wähle die AFD, das tun viele hier.
Wir wollen sie nicht, aber wir wählen sie.“
Sein
Sohn sitzt etwas hilflos daneben.
„Was soll ich machen?“, fragt Jens Schreinicke, der CDU-Mann.
Protestwahl sei keine Lösung.
„Aber ich kann die Menschen verstehen.“
Dabei
ist – zumindest was Angriffe auf Menschen angeht – bisher alles
Theorie. In der internationalen Studie des Norwegischen Instituts für
Naturforschung (NINA) von 2002 – bisher größte Untersuchung auf dem Gebiet – wurden alle
dokumentierten Wolfsübergriffe der letzten Jahrhunderte analysiert.
Ergebnis: Seit 1950 wurden in Europa nur neun Menschen von Wölfen
getötet, die meisten Tiere hatten Tollwut. Auch Schreinicke und sein
Vater müssen passen: Mitunter hätten Nachbarn einen Wolf gesehen,
sagen sie. Angegriffen aber wurde niemand.
Den
Weidetierhaltern hilft das indes wenig. Rund 400 Nutztiere wurden
laut Landesumweltamt vergangenes Jahr in Brandenburg gerissen.
Wie also umgehen mit dem Wolf?
André
Pfeiffer, der Wolfsbeauftragte aus Spremberg, sagt: „Wer seine
Weide konsequent und sorgfältig schützt, kann das Risiko definitiv
minimieren.“ Wölfe dürften nur in absoluten Ausnahmefällen
geschossen werden – wenn sie für den Menschen wirklich gefährlich
werden.
Jürgen
Frenzel, der Landwirt mit den fünfzig toten Rindern, sagt: Man
sollte Wölfe in abgelegenen Gebieten ansiedeln.
Und sie vergraulen, wenn sie Mensch oder Nutztier zu Nahe kommen.
CDU-Mann
Jens Schreinicke findet das auch. Sagt aber, man solle sie auch
schießen dürfen – wenn sie sich in der Nähe von Orten ansiedeln.
Schreinicke
befürwortet außerdem den Wildtiermanagement-Plan Wolf des Forums Natur, einem Bündnis von Bauern-, Forst- und
Jagdvereinen, die fordern, einen „Akzeptanzbestand“ festzulegen.
Eine Population des Wolfes also, für den die Landwirte bereit sind,
die Kosten für entstehende Schäden zu tragen. Alles was darüber
liegt, würde geschossen. Auch wenn die Initiatoren es nicht so
nennen wollen – eine, wenn auch verhandelbare, „Obergrenze“ für
den Wolf.
Es
gibt aber auch Menschen, denen geht das nicht weit genug. Wenn André
Pfeiffer und der BUND ganz links stehen in der Diskussion um den
Wolf, die Landwirte Frenzel und Schreinicke in der Mitte, dann
markiert dieser Mann den äußersten rechten Rand: Reinhard Jung.
Jung
ist Geschäftsführer des Bauernbundes Brandenburg und Mitbegründer
der Initiative „wolfsfreie Zonen“. Ginge es nach ihm, sollte
jeder Wolf, der auch nur in die Nähe von Mensch oder Tier kommt,
geschossen werden. 53 Kommunen haben sich seiner Initiative bisher
angeschlossen.
Jung,
der die Initiative den „politischen Arm des Widerstandes“ nennt,
poltert gern. Spricht von einer „Naturschutzbürokratie“ in der
Landesverwaltung, von „obrigkeitsstaatlicher Willkür“, vom Wolf
als „Spendenmaskottchen, mit dem Naturschützer ahnungslosen
Städtern eine heile Natur vorgaukeln“. Der Wolf gehört für ihn
schon seit Jahren geschossen. In seiner Gegend, der Prignitz, sagt
er, würden die Menschen das Gesetz notfalls selbst in die Hand
nehmen, ohne groß darüber zu reden. Es gebe sogar einen Ausdruck
dafür: Schießen, Schippen, Schweigen.
Zurück
in die Slamener Heide. Die BUND-Gruppe um André Pfeiffer, den
Wolfsbeauftragten, bleibt plötzlich stehen. Hinter einer Kurve
zeichnet sich ein Hochstand ab, davor parkt ein grüner Jeep. Ein
Jäger?
Als
die Gruppe am Hochstand vorbeiläuft, geht oben die Tür auf, ein
Mann lehnt sich heraus. Über 70 Jahre alt, grüne Jägerkluft, im
Hintergrund lehnt ein Gewehr.
„Was
macht ihr hier, ihr versaut mir alles“, ruft er. „Ich zahle meine
Gebühren und ihr verscheucht das Wild.“
Nach
einer kurzen Diskussion zieht die Gruppe weiter. Sie reden aber noch
länger über den Mann; „Wolfshasser“, nennen sie ihn. Freunde
waren Naturschützer und Jäger nie. Der Wolf aber hat die Fronten
noch verhärtet.
Fragt
man André Pfeiffer, sind die Landwirte in der Debatte um den
Abschuss des Wolfes nur vorgeschoben. Ein Teil der Jägerschaft sei
das eigentliche Problem; sie seien die treibende Kraft. Weil der Wolf
das Wild frisst und den Bestand dadurch auf natürliche Weise
reguliert – und sie damit ein stückweit überflüssig macht.
Der
Wolf in Deutschland: Panikmache, berechtigte Angst – oder geht es
vor allem doch ums Geld?
Dirk-Henner
Wellershoff ist Präsident des Landesjagdverbandes Brandenburg.
Natürlich bedeute der Wolf finanzielle Einbußen, sagt er. All die
Rehe, Wildscheine und Hirsche, die er erlegt – und die die Jäger
dann nicht mehr schießen könnten. Natürlich gehe das ins Geld.
Für
ihn gehöre der Wolf ins Jagdrecht, natürlich. Er könne die
Diskussion darum auch nicht verstehen. „Es heißt doch, die
Menschen wollen regionales, frisch erlegtes Fleisch“, sagt er. „Das
ist genau das, was wir Jäger liefern. Der Wolf stört dabei doch
nur.“
Für
Wellershoff müsse sich die Gesellschaft entscheiden: Naturnahe
Weidetierhaltung oder ein Leben mit dem Wolf – beides gehe nicht.
Um 30 Prozent wächst die deutsche Wolfspopulation pro Jahr. Für
ihn deutlich zu viel. „Der
Wolf ist nicht vom Aussterben bedroht“, sagt er. „Es gibt genug
Wölfe, etwa in Sibirien. Müssen die wirklich hier in Deutschland
leben?“
Müssen
sie?
Eine
Frage mit philosophischen Dimensionen.
André
Pfeiffer sagt: „Das ist wieder dieses Bild: Was ich brauche, das
darf bleiben. Was nicht, das nicht. Was ist denn das für eine
Einstellung?“ Warum, fragt er, sollten Menschen entscheiden,
welches Tier wo zu leben hat? Und überhaupt, natürlich könnten
Mensch und Wolf zusammenleben. „Früher ging es ja auch.“
Am
Ende ihres langen Marsches, die untergehende Sonne taucht den Wald in
dunkelrotes Licht, setzen er und seine Gruppe sich ins Gras. Sie
haben noch mehr Fell gefunden, Wolfskot, er hat ihnen den Kadaver
einer gerissenen Kuh gezeigt.
Nur
einen Wolf haben sie nicht gesehen.
Das Tier bleibt scheu.
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