In seiner Kindheit floh Aarash D. Spanta aus Afghanistan nach Deutschland. Der Anwalt hatte das lange verdrängt – bis er 2015 selbst zum Helfer für Flüchtlinge wurde.
Für viele Menschen markiert das Jahr 2015 eine Zäsur. Hunderttausende Asylbewerber begannen in Deutschland ein neues Leben. Viele Deutsche fühlten sich neuen Herausforderungen und fremden Kulturen ausgesetzt. Für den Berliner Aarash D. Spanta hingegen, bis dahin eigentlich Anwalt für Medienrecht, bedeutete das Jahr einen Neubeginn und eine Rückkehr: zu seiner Herkunft, zu seinem Vater und zu seiner eigenen Fluchtgeschichte. Im Jahr 2015 begann für ihn eine nicht geplante Begegnung mit der eigenen Vergangenheit.
Zweieinhalb Jahre später. Spanta empfängt in seiner Berliner Gemeinschaftskanzlei, einem noblen Altbau. Sein Zimmer: ein Schreibtisch, eine schwarze Ledercouch, eine Designerlampe. Aus den Boxen dringt Jazz. Es sitzt alles makellos: das gestriegelte graue Haar, das hellblaue Hemd, das Jackett, der Seidenschal. Spanta, 42, sieht aus, wie man sich einen Anwalt vorstellt. Denkt man zunächst. Dann greift er erst einmal zum Tabakpäckchen, Drum dunkelblau, und dreht sich eine Zigarette.
Sechs Mandanten wird er an diesem Tag empfangen. Sie kommen zu ihm, weil sie Post vom Amt erhalten haben, weil ihr Asylantrag abgelehnt wurde und sie dagegen klagen. Andere bereitet er auf die Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vor. Er durchforstet dann ihre Biografien. Warum musstest du fliehen? Warum kannst du nicht zurück? Sein Job ist es, die bedeutendsten Stellen herauszuarbeiten. Anschaulich, konkret, "wie in einem Film".
Er kennt das. Lange vor jenem Herbst 2015 war Spanta freier Dokumentarfilmautor und Kameraassistent in Aachen. Dann studierte er Jura, wurde Anwalt, vertrat Mandanten, die Geräte für vernetztes Wohnen entwickeln oder Websites für Inneneinrichtung betreiben. Mit Afghanistan hatte sein Leben nicht viel zu tun. Und dann kamen die Flüchtlinge.
Er sei damals regelrecht verschluckt worden, sagt Spanta heute. Seine zwei Telefone läuteten im Herbst 2015 ununterbrochen, täglich standen Mandanten vor der Tür, einige unangemeldet. Diejenigen, die einen Termin hatten, brachten gleich noch fünf Landsleute mit. "Du bist doch Aarash, der Anwalt, Sohn von Rangin D. Spanta", sagten sie. "Du musst uns helfen!"
Spantas Vater war afghanischer Außenminister, vielen Flüchtlingen war er deshalb ein Begriff. Er selbst hatte sich in Ruhe in die Asylthematik einarbeiten wollen, aber dazu blieb keine Zeit. Von einen Tag auf den anderen begann ein neues Leben.
Eine Brücke zur Vergangenheit
Und dann kamen diese beiden Menschen, ein Mann, eine Frau, die ersten Mandanten in seinem neuen Berufsfeld, ausgerechnet aus Herat. Zweitgrößte Stadt Afghanistans. Ort seiner Geburt. Die Stadt, in der sein Vater ein angesehener Mann war, die Stadt, mit der er bis dahin nur Gerüche verband, getrocknete Mandeln, brennendes Holz, Erinnerungen aus der Kindheit.
Sie saßen in seiner Kanzlei und sprachen mit dem Dialekt, den er nur von früher, aus der elterlichen Wohnung kannte. Skurril, sei das gewesen, sagt Aarash D. Spanta heute. Und belastend. Weil es so familiär war. Die ganze Zeit fragte er sich: Kann ich für meine Arbeit überhaupt Geld verlangen?
Das Schicksal habe ihn damals eingeholt, sagt er heute. Man merkt, dass es ein emotionales Thema ist. Weil seinem Vater, Sohn eines einflussreichen Großgrundbesitzers, Verfolgung drohte, floh die Familie 1982 nach Deutschland und zog nach Aachen.
Als 2015 die Flüchtlinge kamen, hatte Spanta eigentlich wenig mit anderen Afghanen zu tun. Die afghanische Community in Berlin empfand er als einengend, er ging ihr aus dem Weg. Als Anwalt verhandelte er bis dahin Urheberrechtsfragen. Nun aber saßen seine vermeintlichen Landsleute in seiner Kanzlei. Jeden Tag.
Wenn Spanta von seinen neuen Mandanten spricht, merkt man, wie es an ihm zieht und reißt. Weil ihre Geschichte zwar ein Stück weit auch die seine, letztlich aber doch eine ganz andere ist. Er selbst stamme noch aus einem Afghanistan mit "funktionierendem Gemeinwesen", sagt Spanta. Mit höflichen Umgangsformen und minutenlangen Begrüßungsritualen. "Das gibt es heute kaum noch." Viele seiner Mandanten seien Analphabeten, hätten nichts als Krieg erlebt, seien traumatisiert. "Es ist schwer, mit ihnen zu reden."
Doch das ist nicht das einzige Problem. In seinen Ausführungen schwingt häufig ein Gefühl mit; diffus, undeutlich und doch präsent: Verpflichtung. Er könne bei seinen afghanischen Mandanten schlecht Härte zeigen, sagt Spanta. Einige schuldeten ihm sogar noch Geld. Seine Kollegen würden in diesen Fällen die Schufa informieren, Mahnungen schreiben. Ihm aber falle das schwer. Dabei sei es eine Zumutung, wie manche Klienten sich ihm gegenüber verhalten würden: die ausufernden Anrufe, das Duzen, als ob er ihr Cousin wäre. "Mit einem deutschen Anwalt reden die nicht so." Und doch könne er sie jetzt nicht mehr hängen lassen.
Die neue Arbeit, sie hat ihn der afghanischen Kultur wieder nähergebracht. Damals im Herbst 2015, wenn er nach stundenlangen Gesprächen mit Mandanten nachts die Kanzlei verließ, begann etwas in ihm zu schwingen, so beschreibt er es. Eine Saite, in Bewegung gesetzt, allein durch die Sprache. Für ein Flüchtlingsprojekt übersetzt er inzwischen die Gedichte Jugendlicher vom Persischen ins Deutsche; im Februar erhielten die Jugendlichen und er dafür den Else-Lasker-Schüler-Lyrikpreis. Die Sprache, die Kultur, sie sind seine Brücke zur Vergangenheit.
Es geht um Menschenleben
Spanta war ein Kind, als die Familie Afghanistan verließ. Zweimal war er seitdem dort: 2002, dann 2006. Furchtbar sei es gewesen, jedes Mal. Und es sei noch schlimmer geworden.
Sein Vater zog 2004 trotzdem zurück nach Afghanistan. Wurde Außenminister, danach Sicherheitsberater für Hamid Karzai. Heute arbeitet er für die Opposition, lebt in Kabul hinter meterhohen Betonwänden. Wenn heute in Kabul eine Bombe hochgeht, schreibt Spanta seinem Vater eine SMS: Lebst du noch?
Einmal im Jahr, wenn der Vater nach Deutschland kommt, sitzen sie gemeinsam vor dem Fernseher, schauen Nachrichten. Über die Finanzkrise, über den Abgasskandal. "Ihr in Europa", sagt der Vater dann, "habt seltsame Probleme."
Spanta lacht kurz auf, wenn er Geschichten wie diese erzählt. Tief, trocken, etwas ungläubig. Weil es ja Wahnsinn ist, was da passiert: die Anschläge in Kabul. Seine Mandanten, die aus Angst vor der Abschiebung fast durchdrehen. Und dann: die deutschen Behörden, die sagen, Afghanistan sei sicher genug, um weiter dorthin abzuschieben. Auch das ist Teil seines neuen Lebens. Beschäftigte er sich in seinem alten Job mit Softwareverträgen, geht es heute um Menschenleben.
Drei Klienten aus seinem alten Feld, dem Medienbereich, betreut er heute noch. Für mehr bleibt keine Zeit. Er bereue den Schritt vom Herbst 2015 nicht, sagt er. Aber er versuche, die Zahl seiner Mandanten weiter zu reduzieren. Denn die Arbeit mit Flüchtlingen hat zwei Seiten: Wenn er vor Gericht gewinnt, sagt Spanta, fühle er sich wie ein Arzt, der ein gebrochenes Bein geheilt hat. Schwierig sei es, wenn er verliert. Denn in den Augen der Klienten sei dann immer der Anwalt schuld. Bei jungen Männern, dem Großteil seiner Klienten, verliere er inzwischen 80 Prozent der Fälle. Die Behörden meinen, sie seien gesund, könnten ja arbeiten und zurück nach Afghanistan gehen.
Es gab einen Mandanten, der war nach Norwegen abgeschoben worden, rief ihn von dort aus an. "Die Polizei hat mich geholt", sagte der Mann, "warum hast du nichts gemacht?" Aber das stimme nicht, sagt Spanta. "Ich habe alles versucht. Aber die Richter entscheiden, nicht ich."
Am Anfang habe er das als persönliche Niederlage empfunden. "Vielleicht", sagt er inzwischen, "geht es beim Anwaltsberuf aber auch um mehr als ums Gewinnen. Darum etwa, den Menschen zu erklären, welche gesetzlichen Möglichkeiten es noch für sie gibt." Das aber sei nicht so leicht, oft führe es ihn an den Rand der Geduld. Vielleicht weil es immer wieder Erinnerungen weckt.
Als Spantas Vater in den Achtzigerjahren den Asylantrag stellte, lief alles recht problemlos. Sie hatten einen guten Anwalt, die Zusage kam schnell. "Und doch", sagt Spanta, "hat man mich von Anbeginn spüren lassen, dass ich anders bin." Da waren die Klassenfahrten, bei denen man ihn aus dem Bus holte, um seine Papiere zu prüfen. Die Türsteher vor Discos, die ihn als Einzigen abwiesen. Wenn Spanta heute davon erzählt, schwingt unterschwelliger Zorn mit. Und vielleicht auch das Gefühl, es diesem Land immer wieder beweisen zu müssen.
Vor Kurzem musste er wegen eines Notfalls in der Nachbarschaft die Polizei rufen. Zwei Kollegen tauchten auf, der eine alt, der andere Mitte 30. "Wie lange sind Sie eigentlich schon in Deutschland?", fragte ihn der jüngere Polizist unvermittelt. "Genauso lange wie Sie", antwortete er. Es gebe Dinge, sagt Spanta, die würden sich nicht ändern. Auch darauf möchte er seine Mandanten vorbereiten.