Horrende Mieten, kurze Vertragslaufzeiten, windige Argumente der Vermieter - viele Läden in der Kreuzberger Oranienstraße sind von Schließung bedroht. Aber die Anwohner setzen sich zur Wehr: mit ausgefallenen Aktionen und Druck auf die Politik.
Zekiye Tunc ist nervös. Man merkt es an ihren knappen Antworten. Daran, wie sie die Lippen zusammenkneift. Wie sie die Anwesenden immer und immer wieder fragt, ob sie noch Tee oder Wasser wollen.
15 Menschen sind an diesem Freitagabend Anfang Oktober in einem Kreuzberger Hinterhof zusammengekommen. Sitzen an einem langen Tisch in einem spärlich beleuchteten Raum, ein Bücherregal auf der einen, eine Schultafel auf der anderen Seite.
Es sind Menschen aus der Nachbarschaft. Ladenbesitzer, Anwohner. Am Kopf der Runde: Tunc, ihr Mann, ihre Tochter. Und der Anwalt der Familie.
Zekiye Tunc ist nervös, denn sie steht vor einer schweren Entscheidung. Seit 18 Jahren führt sie ein Geschäft in der Kreuzberger Oranienstraße. Erst als Kinderladen, dann als Spätkauf. „Oranien-Späti", heißt er bei den Nachbarn. Im Frühjahr lief ihr Vertrag aus, verlängert wurde er nicht. Bleiben kann sie, aber nur, wenn sie einen neuen Vertrag unterschreibt. Und 40 Euro pro Quadratmeter zahlt - mehr als das Doppelte des alten Preises. „Eigentlich", sagt Tunc, „ist das unmöglich."
Sie ist von Räumung bedroht. Und fragt sich: Kann sie sich die Miete doch irgendwie leisten? Und will sie das überhaupt? Oder befeuert sie damit eine Entwicklung, die die ganze Straße, wenn nicht den ganzen Bezirk, die ganze Stadt bedroht? Weil andere Vermieter dann sehen: Sie kommen damit durch.
Etwas ist aus dem Ruder gelaufen in der Oranienstraße, jener Gegend, in der Menschen in den Achtzigern Häuser besetzten und alternative Lebenskonzepte erprobten. Kreuzberg 36 das war Punk, Anarchie, das waren die Krawalle vom 1.Mai. Einige der Geschäfte hier, Platten- und Klamottenläden, Hinterhofwerkstätten und Ateliers, stammen noch aus dieser Zeit. Viele von ihnen sind jetzt bedroht.
Quadratmeterpreise von 40 Euro sind für die meisten nicht zu stemmen, und doch inzwischen keine Ausnahme mehr. Mehr noch: Mit der Oranienstraße 199-205 hat die „ Deutsche Investment Kapitalverwaltungsgesellschaft mbH ", zu der der Immobilienfonds „Deutsche Investment - Wohnen III" gehört, gleich mehrere Blocks gekauft.
Den meisten Läden dort, so erzählen es Anwohner, sei fristgemäß gekündigt worden. Einigen habe man neue Verträge angeboten, zu Konditionen, die sie nicht tragen konnten.
Viele Ladenbesitzer in der Oranienstraße stehen damit vor dem Aus. Mehr als 80 von ihnen haben sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen, um sich zu wehren. Einige sitzen heute Abend hier, in diesem spärlich beleuchteten Raum.
Die Geschäfte der O.Es sind Menschen dabei, die kennen sich seit Jahren. Andere treffen sich heute zum ersten Mal. Sie haben viel vor: Eine große Aktion ist geplant. In anderthalb Wochen sollen alle Läden der Straße für zwei Stunden ihre Fenster verdunkeln, um zu zeigen, wie es im Kiez ohne sie aussehen würde. Für die Aktion müssen Slogans erdacht und Banner gedruckt werden.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich von Verdrängung bedrohte Kreuzberger in Bündnissen zusammentun. 2015, als dem Gemüseladen Bizim Bakkal im Wrangelkiez gekündigt wurde, formierte sich die Initiative Bizim Kiez. Das Bündnis, das für den Erhalt der Bäckerei Filou in der Reichenberger Straße kämpfte, nennt sich „ GloReiche Nachbarschaft", das Bündnis „ ORA35 " unterstützt Zekiye Tunc im Kampf um ihren „Oranien-Späti". Die Menschen, die an diesem Abend zusammenkommen, haben noch keinen Namen für ihre Initiative. Das steht als erstes auf dem Programm.
„Vielleicht sollte es etwas Türkisches sein", schlägt einer vor. „Wie wäre es mit Ora Elele?", antwortet ein anderer. „Oranienstraße, Hand in Hand". „Oder doch lieber: die Geschäfte der O?"
Die meisten Anwesenden wollen anonym bleiben. Einige, weil sie Vertragsklauseln unterschreiben mussten, die es untersagen, Interna nach außen zu geben. Andere, weil sie Angst haben, mit einem Gang an die Öffentlichkeit ihre Vermieter zu verprellen - und ihr Geschäft dadurch endgültig zu verlieren.
Vier von ihnen sind einige Tage später trotzdem zu einem Gespräch bereit, in einem Café in der Nähe. Swenja Ritchie zum Beispiel, Inhaberin des gleichnamigen Geschäfts für nachhaltige Mode.
Sie führe ihren Laden seit 22 Jahren, erzählt sie. Vor vier Jahren habe man ihre Miete um 30 Prozent erhöht. Eine weitere Erhöhung, das hat sie ihrem Vermieter klargemacht, könne sie nicht stemmen.
Das Problem, sagt Ritchie, seien nicht nur die steigenden Mieten. Das Problem seien auch die kurzen Vertragslaufzeiten. Auf maximal drei Jahre seien sie begrenzt, mitunter auch auf ein Jahr. Als Ladenbesitzer stehe man damit ständig „mit dem Rücken zur Wand". Niemand wisse, ob sich Investitionen in das Geschäft noch rechnen würden - oder ob man zugunsten zahlungskräftigerer Mieter gehen müsse. „In drei Jahren", befürchtet Ritchie, „ist die Oranienstraße ausgetauscht."
Was Protest bewirken kannThorsten Willenbrock, Geschäftsführer des Buchladens Kisch&Co, kennt das Problem, er steckte letztes Jahr in einer ähnlichen Situation: Sein Mietvertrag war ausgelaufen, ein niederländisches Brillenlabel sollte in den Laden ziehen. Dass dann doch alles anders kam, lag vor allem an den Protesten der Anwohner. „Die Menschen sind auf die Straße gegangen, es gab Unterschriftensammlungen", erzählt Willenbrock. „Einige haben täglich Postkarten an den Vermieter geschrieben, haben angerufen, haben gefragt: ‚Können Sie sich eine Welt ohne Bücher vorstellen'."
Es war ein „breiter Widerstand aus verschiedenen Ecken". Irgendwann habe man sich mit dem Vermieter, der Nicolas Berggruen Holdings GmbH, geeinigt. Willenbrock konnte bleiben. Seine Geschichte - ein Zeichen dafür, dass Protest durchaus etwas bewirken kann. Das sieht auch Connie Wagner so. Sie selbst betreibt zwar keinen Laden auf der Oranienstraße - die steigenden Mieten haben ihre Druckerei inzwischen bis nach Lichtenberg getrieben - aber sie engagiert sich, koordiniert die Treffen der Gruppe, bringt die Mitglieder per E-Mail auf den neuesten Stand. „Die Ladenbesitzer und Anwohner müssen zusammenhalten", sagt sie. „Die Menschen dürfen nicht resignieren." Wichtig sei auch die Vernetzung über Berlins Grenzen hinaus, der Kontakt zu anderen Städten - damit das Problem auf Bundesebene ankomme.
Die Feindbilder, das wird bei den Gesprächen deutlich, sind gar nicht so eindeutig zu bestimmen: Klar, da sind die internationalen Investoren, die Gebäude kaufen, horrende Mieten kassieren und die Bodenpreise in die Höhe treiben. Da seien, sagt Wagner, aber auch die Immobilienfonds, die unter anderem Kleinanleger ermutigen, zu investieren. Und die wiederum wüssten oftmals gar nicht, dass sie mit ihren Investitionen andere Menschen verdrängen würden.
Die vierte an diesem Abend ist Coni Pfeiffer, eine Anwohnerin aus der Nachbarschaft. Auch sie hat kein Geschäft auf der Oranienstraße, ist nicht direkt betroffen. Aber auch sie engagiert sich. Sie habe damals mit für das Bleiben der Bäckerei Filou gekämpft, erzählt sie. Und wollte sich - als das erreicht war - weiter für den Kiez einsetzen. „Letztlich müssen wir uns fragen, wer diese Stadt gestaltet", sagt sie, „die Anwohner oder die Investoren?" Viele Immobilienunternehmen kämen wegen des Images nach Kreuzberg, würden es „auslutschen" und dann weiterziehen.
Pfeiffer, Mitglied im Bündnis „GloReiche Nachbarschaft", ist auch in die Organisation der geplanten „Verdunklungsaktion" involviert. Das Abkleben der Schaufenster war ihre Idee.
Die Aktion ist ein voller Erfolg: Ein Großteil der Läden, Schätzungen reichen bis zu 97, verdunkeln an diesem 18. Oktober zwischen 17 und 19 Uhr ihre Schaufenster. Die Buchhandlung Dante tut es mit schwarzem Krepp, im Café Alibi hängt Zeitungspapier, in der Bar Bateau Ivre ein Pappschild: „Unser Vermieter unterstützt die Verdunklungsaktion". Fotografen und Journalisten laufen die Straße rauf und runter. Zeitungen sind da, der rbb schickt Kameramänner und Reporter.
Zentraler Anlaufpunkt ist das Kisch&Co, der Buchladen von Thorsten Willenbrock. Tische stehen vor dem Geschäft, Nachbarn und Passanten sitzen daran, diskutieren. Die verdunkelten Scheiben seien eine „tolle Aktion", sagt eine Anwohnerin. „Sie zeigt, wie es hier aussehen würde, wenn nichts mehr geht." Wenn Kreuzberg „Trauer trägt".
Keine 200 Meter die Straße runter liegt der Laden von Zekiye Tunc, der „Oranien-Späti". Tunc wirkt etwas gehetzt an diesem Abend. Mehrere Interviews hat sie schon gegeben, gerade war die Reporterin einer türkischen Zeitung da. Jetzt kramt sie ihren Mietvertrag und einen dicken Hefter zusammen; darin die Unterschriftenliste zum Erhalt ihres Ladens, 3.000 Menschen haben sie signiert. Tunc will die Liste mitnehmen, zum Wirtschafts- und Stadtplanungsausschuss, der später am Abend im Rathaus Kreuzberg tagt.
Die Probleme der Ladenbetreiber, das ist allen Beteiligten klar, lassen sich mit Protest allein nicht lösen. Was es braucht, ist ein gesetzlicher Schutz. Denn anders als bei Mietwohnungen und Neubauten, die unter Milieuschutz gestellt werden können, gibt es derartige Regelungen für Gewerbetreibende bisher nicht.
Nur die Spitze des EisbergsWas des Bündnis daher fordert: einen Kündigungsschutz für Gewerberäume, insbesondere für soziale Einrichtungen; längere Laufzeiten für Mietverträge; eine Begrenzung der Mieterhöhungen. Ein Mietpreisbremse für Gewerbetreibende sozusagen.
Unterstützt werden sie in ihren Forderungen von der lokalen Politik. Die Bundestagsabgeordneten Canan Bayram (Grüne), Cansel Kiziltepe (SPD) und Pascal Meiser (Die Linke) schauen regelmäßig beim Späti vorbei, setzen sich für Zekiye Tunc ein. Meiser ist an diesem Abend auch vor Ort. „Was wir in der Oranienstraße erleben", sagt er, „ist nur die Spitze des Eisbergs. Es sind ja viel mehr Läden betroffen."
Auch Meiser fordert ein Gewerbemietrecht. Wie das genau aussehen soll? „Die Verträge müssen im Regelfall unbefristet sein", sagt er. „Und es muss klare Begrenzungen für Mieterhöhungen geben, in laufenden Verträgen, aber auch bei Neuabschlüssen."
Ziel sei ein „verbindlicher Gewerbemietspiegel, mit dem sich klare Mietobergrenzen festlegen lassen und der auch bei Neuvertragsabschlüssen künftig keine willkürlichen Sprünge mehr erlaubt". Bei laufenden Verträgen könnte ein Inflationsausgleich dabei als Deckel für Erhöhungen gelten.
Wie aber will er sichergehen, dass die Mietpreisbremse, die bei Mietwohnungen gemeinhin als gescheitert gilt, bei Gewerberäumen tatsächlich greift? Indem man keine Schlupflöcher zulässt, sagt Meiser. Das Problem des bisherigen Modells seien die fehlenden Sanktionen. „Für viele Vermieter ist das eine Einladung, es einfach mal zu probieren". Das müsse man beim Gewerbemietrecht vermeiden. Durchgesetzt werden können diese Forderungen allerdings nur auf Bundesebene. Eine entsprechende Bundesratsinitiative bereitet der Berliner Senat derzeit vor. Konkrete Eckpunkte dazu gibt es noch nicht.
Doch an diesem Abend geht es nicht nur um die große Politik, es geht auch ganz konkret um den Oranien-Späti. Das Bündnis „ORA 35" hat gemeinsam mit Bezirksverordneten von Grünen, SPD und Linke einen Resolutionsentwurf verfasst, der in der Bezirksverordnetenversammlung eingebracht werden soll. Das Papier ist eine Solidaritätserklärung mit dem Späti. Und ein Versuch, mit dem Vermieter doch noch zu einer Einigung zu kommen.
Der Vermieter taucht abDie Chancen dafür stehen allerdings schlecht; die Fronten sind verhärtet. Nachdem ihr Mietvertrag im Frühjahr ausgelaufen und nicht verlängert worden war, zog Tunc mit 50 Unterstützern vor das Büro des Vermieters, eine Villa in Grunewald, um die Unterschriftenliste zu übergeben. Dort habe man ihr, erzählt sie, nicht einmal die Tür geöffnet. Statt dessen kam ein Räumungsbescheid, später dann das neue Angebot. Sie soll mehr als das Doppelte zahlen - und das rückwirkend ab Mai. Und dann ist da noch die Sache mit dem Keller: Er wurde im neuen Vertrag in die Mietfläche mit eingerechnet. Und das, obwohl er nicht nutzbar sei, wie Tunc erklärt, und auch nie Teil der alten Verträge war. Ein Alibi, damit die Mieterhöhung weniger drastisch wirkt, glauben Freunde der Familie.
Der Vermieter, die Bauwerk Immobilien GmbH, will sich dazu nicht äußern. Eine E-Mail-Anfrage der ZITTY blieb unbeantwortet, telefonisch war wiederholt niemand zu erreichen. Vertreter des Unternehmens sind an diesem Abend auch zur BVV-Sitzung geladen. Gekommen ist niemand.
Dabei ist der Sitzungssaal im ersten Stock des Rathauses Kreuzberg, einem schlichten grauen Nachkriegsbau, an diesem Abend gut gefüllt. Es ist 18 Uhr, die Sitzung beginnt pünktlich. Als erster Punkt steht der Resolutionsentwurf zum Späti zur Diskussion - und wird umgehend abgeschmettert. Timur Husein, Fraktionsvorsitzender der CDU, stellt sich quer. Der Punkt war zu spät auf die Tagesordnung gesetzt worden. Für Husein ein Grund, die Sitzung dazu zu vertagen. Tunc, ihre Tochter, ihr Anwalt, Meiser und ein Aktivist von „ORA 35", alle wegen des Entwurfes hier, sollen in zwei Wochen wiederkommen. Sie sind ernüchtert, aber nicht desillusioniert. Dann eben in 14 Tagen. Den Erfolg der gesamten Aktion trübt das nicht.
Sie sei sehr zufrieden, erklärt Aktivistin Connie Wagner zwei Tage später. Es ist Freitag, Nieselregen geht auf der Oranienstraße nieder. Das Bündnis versammelt sich erneut vor Zekiye Tuncs Späti, bevor es hinauf geht, in den Raum im Hinterhof.
Die Ladenbesitzer und Anwohner hätten sich durch die Aktion besser kennengelernt, sagt Wagner. „Viele fühlen sich jetzt noch mehr verbunden."
Es sei sogar schon eine neue Aktion geplant: Ein Lampionumzug soll am 16. November durch die Straße ziehen - um auf die prekäre Lage der Kitas im Kiez zu verweisen.
Ach ja, sagt Wagner dann noch, einen Namen habe das Bündnis inzwischen auch. Sie nennen sich: OraNostra.