Eine Steglitzer Kirchengemeinde drohte buchstäblich auszusterben. Doch dann kamen muslimische Flüchtlinge - und konvertierten zum Christentum. Ein Wunder, bei dem Fragen bleiben.
Mittwochnachmittag in der Dreieinigkeitskirche in Steglitz. Pfarrer Gottfried Martens, 53, ein Mann mit kurz geschorenem Haar und beigem Seemannspulli, schreitet durch den hellen Saal. Die Arme vor dem Körper verschränkt, die Augen fest auf die Bankreihen gerichtet, der Blick siegesgewiss. Wie ein Boxer vor dem Wettkampf.
„Für euch war Gott immer groß und weit weg", sagt Martens. „Im Abendmahl aber kommt er uns so nah, dass wir ihn berühren können. Er macht sich ganz klein, aus Liebe zu uns."
Etwa 80 Zuhörer sitzen auf den Bänken. Fast alles Männer zwischen 20 und 30, in Jeans und T-Shirts, vereinzelt auch Frauen und Kinder. Ihre Blicke folgen Martens aufmerksam - und schweifen doch immer wieder zu dem jungen Mann hinüber, der neben ihm steht. Martens Dolmetscher. Der Mann, der die Worte des Pfarrers ins Farsi übersetzt.
Die Zuhörer an diesem Nachmittag stammen alle aus dem Iran und Afghanistan. Es sind Muslime, die keine mehr sein wollen. Sie sind zum Taufunterricht hier. Vier Monate lang studieren sie die zehn Gebote und die Lehren Luthers, sie lernen, wie das Abendmahl abläuft und wie man ein Glaubensbekenntnis spricht. Am Ende wird Martens sie prüfen und - sollten sie die Prüfung bestehen - taufen. Ein „Crashkurs" in die neue Religion. Und doch so viel mehr.
Man kann das, was da in Steglitz passiert, durchaus als kleines Wunder bezeichnen. Zumindest aus Sicht der Kirche: Keine fünf Jahre ist es her, da sollte das Gebäude abgerissen werden. Eine Handvoll älterer Herren und Damen kam noch zum Gottesdienst, ansonsten blieb das Haus leer. Dann aber, 2011, tauchten die ersten zwei Iraner in der Gemeinde auf. Bald brachten sie Freunde mit, die wiederum Freunde mitbrachten. Inzwischen gibt es 1.100 neue Mitglieder, alles Flüchtlinge.
Das „Wunder von Steglitz" ist kein Einzelfall: Überall in Deutschland konvertieren Muslime derzeit zum Christentum. Die Taufe von 70 Muslimen in einem Hamburger Schwimmbad, von der ARD übertragen, ist nur das prominenteste Beispiel. Genaue Angaben zur Anzahl der Konvertiten gibt es nicht - unter anderem, weil weder die Evangelische Kirche in Deutschland noch die katholische Bischofskonferenz Zahlen nennen. Tausende sind es auf jeden Fall. Die meisten von ihnen Flüchtlinge.
Was Raum für Spekulationen lässt: Geht es hier vielleicht gar nicht um Glauben? Muslimische Asylbewerber, die in Deutschland zum Christentum konvertieren, erhöhen damit ihre Chancen auf Asyl – falls sie in ihrer Heimat aufgrund der neuen Religion verfolgt würden. Ist also alles eher eine Frage des Verstandes statt des Herzens?
Der Unterricht in der Dreieinigkeitskirche ist vorbei, die Zuhörer strömen aus dem Saal. Martens nimmt sie in den Arm, jeden Einzelnen, und beantwortet ihre Fragen. Und die angehenden Christen haben viele Fragen.
Er hege keinen Zweifel an den reinen Absichten der Bewerber, sagt der Pfarrer. Auf gerade mal zehn Prozent schätzt er den Anteil derer, denen es nur um den Taufschein gehe. Die restlichen 90 Prozent würden sich längerfristig in der Kirche engagieren – selbst, wenn sie den Asylbescheid schon in der Tasche haben. Und dann sei da ja noch die Prüfung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, bei der die Konvertiten Fragen zu ihrer neuen Religion beantworten müssen; der Taufschein allein reicht für eine Anerkennung nicht aus.
Die Konversion muslimischer Flüchtlinge zum Christentum ist komplex. So sind es keineswegs die Syrer - die zahlenmäßig größte Gruppe unter den Flüchtlingen in Deutschland -, die zu Pfarrer Martens kommen. Drei Viertel der Konvertiten stammt vielmehr aus dem Iran, der Rest aus Afghanistan. Deutschlandweit beträgt der Anteil der Iraner an den Konvertiten gar 95 Prozent, so eine Schätzung des Internationalen Instituts für Religionsfreiheit.
Warum sich gerade Iraner zum Christentum hingezogen fühlen, dafür gibt es gleich mehrere Gründe: Sie folgen mehrheitlich dem schiitischen Islam, der mit seinen Trauerzeremonien und Selbstgeißelungen eine gewisse Nähe zur Leidensgeschichte Jesu aufweist. Für die Sunniten des so genannten Islamischen Staates sind Schiiten Todfeinde. Zudem hat sich das Christentum im Iran - wo der Islam Staatsreligion und Konversion verboten ist - in den letzten Jahren zu einer bedeutenden Protestreligion entwickelt. Immer mehr Untergrundkirchen entstehen im Land, ihre genaue Anzahl lässt sich schwer bestimmen.
Martens schätzt, dass über die Hälfte der Iraner seiner Gemeinde bereits in der Heimat mit dem Christentum geliebäugelt hat. Die meisten seien gut ausgebildet, Teil der Mittelschicht und damit „offener für religiöse Alternativen".
Menschen wie Arash. In seiner Heimat im Süd-Iran studierte er Elektrotechnik, dann floh er. Über die Gründe möchte er nicht sprechen. Arash sitzt mit zwei anderen Kursteilnehmern an einem Plastiktisch im Garten der Kirche. Er ist 31, sein Blick offen und freundlich, um den Hals trägt er ein Holzkreuz.
Er wolle nicht wegen der Papiere, sondern aus Überzeugung Christ werden, sagt er gleich zu Beginn des Gesprächs - ohne dass man danach gefragt hätte. Die Vorurteile gegen die Konversion - sie kennen sie hier alle. Unterhält man sich aber länger mit den angehenden Christen, wirken sie von ihrer neuen Religion überzeugt.
Auch Arash pflegte schon in der Heimat Kontakt zu Christen, erzählt er. Seiner Familie habe er nichts davon gesagt, die sei streng muslimisch. Erst von Deutschland aus habe er sie - via Facebook - über seine Entscheidung informiert. Seine Mitbewohner im Asylbewerberheim hingegen wissen von nichts. Arash fürchtet Repressionen.
Ob Glaubensfrage oder nicht - die Konversion ist für Menschen wie ihn ein klarer Schnitt. Einerseits erhöht sie tatsächlich die Chancen auf Asyl. Andererseits gibt es damit auch kein zurück mehr: Die Abwendung vom Islam kann im Iran mit dem Tod bestraft werden.
Was Arash zu dem Schritt bewogen hat?
„Der Islamische Staat, das Chaos in Afghanistan, die Attentate von Brüssel und Paris."
Ob er den Islam per se für gefährlich halte?
Er nickt. „Es ist doch so: Mohammed hat gekämpft, Jesus nicht."
Die zwei anderen Iraner am Tisch stimmen ihm zu. Auf Muslime sind sie hier nicht gut zu sprechen. Zu repressiv ist das Regime in der Heimat.
„Die Mullahs haben bei denen abgewirtschaftet", sagt Pfarrer Martens in seinem Büro, einem karg eingerichtetem Raum im Erdgeschoss der Kirche. „Die lassen sich nicht mehr für dumm verkaufen."
Der Pfarrer spricht schnell, fast hektisch. Wirkt dabei dennoch hochkonzentriert.
Ob das Islambild der angehenden Konvertiten nicht etwas einseitig sei? Martens nickt - lenkt dann aber ein: „Wenn man die Geschichten der Menschen hier hört, dann ist es schwierig, mit ihnen eine Diskussion über den moderaten Islam zu führen." Eine „Islamhetze" liege ihm fern, sagt er. Dennoch sei es nicht seine Aufgabe, die Flüchtlinge in ihrer jetzigen Situation von ihrem Kurs abzubringen. „Sie haben das Recht, einen kompletten Schnitt zu machen. Wir würden das an ihrer Stelle auch tun."
Ob er versucht habe, seine Kirche auch für arabische Muslime, etwa für Syrer, zu öffnen? Ein paar Mal seien Syrer zum Unterricht gekommen, sagt Martens. Auf lange Sicht scheitere das aber an der Sprachbarriere. Zudem sei es nicht von allen Iranern gewollt. Nicht wenige würden Araber als einstige Besatzer wahrnehmen.
Der Hauptgrund für die Skepsis der Konvertiten aber seien die Erfahrungen, die sie in den Asylbewerberheimen machen würden, sagt Martens. Arashs Befürchtungen seien nicht aus der Luft gegriffen. Immer wieder berichteten Gemeindemitglieder von Anfeindungen und Gewalt seitens muslimischer Bewohner und Security-Mitarbeiter. Die konvertierten Christen, sagt Martens, stecken in Deutschland in einer „Sandwich"-Situation: Auf der einen Seite stehen gesellschaftliche Ausgrenzung und Bedrohung von rechtsextremen Gruppen, auf der anderen der Druck militanter Muslime.
Auch Martens selbst befindet sich zwischen den Fronten. Sein öffentliches Engagement für den Schutz konvertierter Christen bringt ihm immer wieder Applaus von falscher Seite, von rechts: Die AfD-Fraktion Hamburg bezog sich kürzlich in einem Antrag sogar explizit auf ihn.
Für Martens ein klares Missverständnis. Er plädiere für eine Öffnung der europäischen Grenzen, sagt er, und wünsche sich, dass Deutschland noch viel mehr Flüchtlinge aufnimmt. Er selbst gewährt neun von ihnen gerade Kirchenasyl. Auch das Wort „Flüchtlingskrise " vermeidet er. Für ihn sei es vielmehr: ein „Flüchtlingsgeschenk". ◆