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Die Angst flieht mit

Nach den Terroranschlägen von Paris geraten Flüchtlinge, insbesondere aus Syrien, unter Generalverdacht. Auch in Berlin. Dabei fürchten gerade sie, dass Kämpfer der Terrororganisation „Islamischer Staat" oder Assads Folterknechte ins Land kommen.

Inzwischen sind die zwei Fotos aus dem Internet verschwunden. Das eine zeigte einen Mann, der durch einen Grenzzaun kriecht. Ein Foto, wie man es in den vergangenen Monaten häufig sah - ein Flüchtling auf dem Weg nach Europa. Das andere zeigte angeblich denselben Mann, aufgenommen ein paar Monate vorher in Syrien. Als Kämpfer des „Islamischen Staates" (IS) lächelte er in die Kamera. In der Hand der abgeschlagene Kopf einer kurdischen Kämpferin.

Lian, der seinen echten Namen nicht öffentlich machen will, hat die Fotos noch gesehen, bevor sie entfernt wurden. „Ich bin mir zu 95 Prozent sicher, dass es derselbe Mann war", sagt er. Er kennt Fotos wie diese. Seine Freunde und Bekannte teilen sie häufig in den sozialen Netzwerken - als Warnung. „Ich glaube, dass ein Teil dieser Leute ins Land kommen will", sagt der 28-Jährige, „also muss man dafür sorgen, dass sie es nicht können." Es ist kein „besorgter Bürger", der da spricht. Lian ist selbst Flüchtling, ein Kurde aus dem Norden Syriens.

Mit den Anschlägen von Paris hat der Terror in Europa eine neue Dimension erreicht. 132 Menschen kamen ums Leben, mindestens 352 wurden verletzt. Einen Tag nach den Attentaten hat sich die Terrororganisation „Islamischer Staat" zu dem Akt bekannt. Unter den mindestens sieben Tätern ist ein bekannter Islamist mit französischem Pass. An einem der Tatorte wurde aber auch ein - vermutlich gefälschter - ­syrischer Pass gefunden.

Die Anschläge kommen zu einer Zeit, in der Flüchtlinge in Deutschland besonders kritisch beäugt werden. Es begann mit haltlosen Pauschalverurteilungen durch rechtspopulistische Gruppierungen wie Pegida, zuletzt mehrten sich aber auch mahnende Stimmen aus deutschen Behörden, die auf Sicherheitslücken bei der Registrierung verweisen. Eine Stimme, die in der Debatte häufig überhört wird, ist die der Flüchtlinge selbst. Für sie ist die Situation gleich doppelt bedrohlich: Sie sehen sich nicht nur einem Generalverdacht ausgesetzt, viele von ihnen fühlen sich auch persönlich verfolgt - von Menschen aus dem eigenen Land. Das gilt insbesondere für Syrer.

Über 240.000 syrische Flüchtlinge wurden in diesem Jahr in Deutschland registriert. Hinzu kommen Zigtausend, die noch nicht erfasst sind. Der syrische Bürgerkrieg wütet seit über vier Jahren. Über 220.000 Menschen sind ihm nach UN-Angaben zum Opfer gefallen, über vier Millionen Syrer sind ins Ausland geflüchtet. Aus dem Aufstand gegen das Assad-Regime ist ein undurchsichtiger Krieg mit ständig wechselnden Fronten geworden. Assad, die Rebellen, der „Islamische Staat", die Al-Nusra-Front - jeder kämpft gegen jeden. Hinzu kommen religiöse Spannungen, etwa zwischen Sunniten und Schiiten. Das syrische Volk ist tief gespalten. Das macht auch vor der Flüchtlingsgemeinde nicht halt.

Es bestehe „großes Misstrauen" unter den Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak, sagt Lian, der seit April in Berlin lebt. Er selbst begegne jeder neuen Bekanntschaft aus der Heimat mit absoluter Vorsicht. In Gesprächen versuche er, so schnell wie möglich herauszufinden, woher die Leute stammen. „Kommen sie aus vom IS-besetzen Gebieten, werde ich hellhörig", sagt er.

Beim Bundeskriminalamt (BKA) gebe es derzeit keine Hinweise darauf, dass dschihadistische Gruppierungen wie der „Islamistische Staat" die Flüchtlingsströme gezielt zur Infiltration nutzen, sagt eine Sprecherin. Bisher gab es laut der „Süddeutschen Zeitung" auch nur einen einzigen belegten Fall: Anfang November hatte die italienische Polizei einen Tunesier mit Verbindungen zum IS festgenommen - er hatte sich unter eine Gruppe von Flüchtlingen gemischt und war vor Lampedusa in Seenot geraten.

Doch für syrische Flüchtlinge in Deutschland sind die Terroristen des „Islamischen Staates" nicht die einzige Bedrohung. Wie eine Umfrage der Organisation „ Adopt A Revolution " ergab, flohen die meisten Syrer nicht vor dem IS, sondern vor Assad. Und dem gehen in seinem Land allmählich die Soldaten aus: Seit März 2011 seien zehntausende Männer desertiert, heißt es bei „Adopt a Revolution". Viele von ihnen, so ist zu vermuten, sind ins Ausland geflohen.

Das befürchtet auch Mahmoud, auch er möchte seinen richtigen Namen nicht nennen. Der politische Aktivist organisierte in seiner Heimat Damaskus Proteste gegen das Assad-Regime. Vier Mal wurde er dafür von den syrischen Geheimdiensten inhaftiert. Man schlug ihn, folterte ihn mit Elektroschocks, drückte Zigaretten auf seinem Körper aus. Einige seiner Mithäftlinge starben. Er selbst konnte fliehen, bekam als politisch Verfolgter Asyl in Deutschland. Jetzt sitzt der 24-Jährige in seiner Wohnung in Berlin - und hat Angst, dass auch seine Feinde von einst in die Stadt kommen.

Seit dem rasanten Anstieg der Flüchtlingszahlen durchkämmt Mahmoud vermehrt die sozialen Netzwerke. Sucht nach desertierten Soldaten, die sich nach Berlin abgesetzt haben. „Einmal ein Mörder, immer ein Mörder", sagt Mahmoud und blickt auf seinen aufgeklappten Laptop. Auf dem Bildschirm sieht man das Foto eines Soldaten in Uniform der syrischen Armee. Mit stolzem Blick posiert der junge Mann, ein Maschinengewehr in der Hand, vor den Trümmern eines zerbombten Hauses. Direkt daneben: ein anderes Foto desselben Mannes, diesmal lächelnd im Hoody, im Hintergrund das Brandenburger Tor. Ein Flüchtling. „Erst haben sie gemordet", sagt Mahmoud, der selbst vor zwei Jahren aus Syrien geflüchtet ist, „jetzt gelten sie als die armen Asylbewerber."

Die Facebook-Gruppe „ Murderers not refugees " ist eine der Plattformen, die er dabei besonders häufig nutzt. 733 Mitglieder zählt die Gruppe, die meisten von ihnen sind Syrer, die im Ausland leben. Das Netzwerk funktioniert wie ein digitaler Pranger: Gruppenmitglieder posten Fotos ehemaliger Soldaten, die ins Ausland geflohen sind. Wer sie erkennt oder sich in dem entsprechenden Land aufhält, soll sie den Behörden melden. Fünf Fälle habe Mahmoud bereits zur Anzeige gebracht, über den Stand der Ermittlungen wisse er nichts. „Diese Verbrecher sind der Grund, warum ich mein Heimatland verlassen musste", sagt er. „Sie dürfen nicht davonkommen."

Die Zeitung „Welt am Sonntag" berichtete kürzlich über einen ähnlichen Fall: Ein in Europa lebender syrischer Flüchtling, der in seiner Heimat gefoltert worden war, hatte einen ehemaligen Peiniger auf Fotos erkannt. Der Beschuldigte hält sich inzwischen in Amsterdam auf. Sollte er für Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt werden, verliert er sein Recht auf Asyl. Bisher wurden in den Niederlanden fünf Anträge von Asylbewerbern, die im Dienst Assads gefoltert und gemordet haben sollen, abgelehnt.

Und in Deutschland? Wie reell ist die Bedrohung durch einreisende Islamisten und Kriegsverbrecher der syrischen Armee wirklich? Beim Bundeskriminalamt sind inzwischen 100 derartige Verdachtsmeldungen eingegangen. In den meisten Fällen handle es sich um Verwechslungen und haltlose Diffamierungen, erklärt eine Sprecherin. In zehn Fällen bestünde allerdings tatsächlich ein begründeter Verdacht. Die Fälle würden derzeit geprüft und an den Generalbundesanwalt weitergegeben. Dort heißt es, man habe „die Konflikte in Syrien und dem Irak unter jedem Gesichtspunkt im Blick". Offizielle Angaben zu derzeit laufenden Verfahren mache man allerdings nicht.

Eines der Probleme dürfte die Beweislage sein. Inzwischen gibt es zwar mehrere Netzwerke, in denen Fotos von Terroristen und ehemaligen Assad-Soldaten gesammelt werden, für eine Verurteilung reicht dies allerdings nicht aus. „Eine Handy-Aufnahme ist zwar ein zulässiges prozessuales Beweismittel und kann einen Verdacht begründen", sagt Professor Gerhard Werle, Experte für Völkerstrafrecht an der Berliner Humboldt-Universität. „Eine Verurteilung kann man allein darauf in der Regel allerdings nicht stützen - schon wegen der Möglichkeiten der Manipulation." Wichtig seien diese Indizien dennoch, da sie häufig den Ausgangspunkt weiterer Ermittlungen bildeten - etwa für das Sammeln beweiskräftiger Aussagen von Zeugen und Opfern.

Doch mangelnde Beweise sind nicht das einzige Problem. Viel schwieriger ist es, vermeintliche Täter überhaupt ausfindig zu machen. Asylbewerber aus Syrien durchlaufen seit November 2014 ein beschleunigtes Verfahren. Bei ihnen wird - wie auch bei Christen, Mandäern und Jesiden aus dem Irak sowie bei Eritreern - auf die sonst übliche persönliche Anhörung verzichtet. Die etwaige Mitgliedschaft in einer militärischen Organisation wird lediglich in einem Fragebogen erfasst, zu einer persönlichen Anhörung kommt es nur in Ausnahmefällen.

Das beschleunigte Verfahren ist damit Segen und Fluch zugleich: Einerseits hilft es Flüchtlingen, sich schneller in den deutschen Alltag zu integrieren. Andererseits erleichtert es auch Verbrechern, ins Land zu kommen. In einem offenen Brief hatten sich die Mitarbeiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, das die Anträge bearbeitet, kürzlich an Behördenchef Frank-Jürgen Weise gewandt. Die Identität der Flüchtlinge werde faktisch nicht mehr geprüft, hieß es - was mit rechtsstaatlichen Prinzipien nicht vereinbar sei und ein „erhöhtes Gefährdungspotenzial" darstelle.

Und doch muss man all das in Relation sehen. 100 Hinweise bei weit über 240.000 Syrern, die allein dieses Jahr nach Deutschland geflohen sind - Kriegsverbrecher und Terroristen sind unter den Flüchtlingen die absolute Ausnahme.

Die weitaus größere Gefahr für die Sicherheit droht von anderer Seite: Berlin entwickelt sich nach Ansicht einiger Experten zunehmend zu einer Hochburg der Salafisten. Der Berliner Verfassungsschutz zählt 650 in der Stadt, 340 stuft er als gewaltbereit ein. Etwa 90 seien inzwischen nach Syrien und in den Irak ausgereist, um sich dem Dschihad anzuschließen. Der kürzlich getötete Denis Cuspert, alias „Deso Dogg", war nur das berühmteste Beispiel.

Und dann sind da noch die Heimkehrer: Radikalisierte und traumatisierte junge Männer, die nach Monaten des Krieg nach Europa zurückkehren. Einer von ihnen, der 36-jährige Kreuzberger Fatih K, wurde kürzlich wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu sechs Jahren Haft verurteilt.

Inzwischen gibt es Initiativen wie die Beratungsstelle an der Neuköllner Şehitlik-Moschee - eine Anlaufstelle für muslimische Jugendliche, die drohen, in den Salafismus abzurutschen. Der Berliner Verfassungsschutz warnt aber bereits vor salafistischen Vereinen, die sich um Flüchtlinge kümmern, um sie anzuwerben. So fanden die Ermittler bei einer Razzia in der umstrittenen Ibrahim al-Khalil-Moschee in Tempelhof auch Kleiderspenden für Flüchtlinge. Dem Imam der Moschee wird vorgeworfen, Männer für den Krieg in Syrien zu rekrutieren. Ähnliche Vorwürfe gab es gegen den Imam des Moabiter Moscheevereins „Fussilet 33". Er soll öffentlich für den „Islamischen Staat" geworben und die Organisation unterstützt haben. Er wurde bereits verhaftet.

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