wien.ORF.at: Der evangelischen Kirche kommen die Mitglieder abhanden. 2016 wurden 4.536 Kirchenaustritte vermerkt. Was macht man da?
Michael Bünker: Viele Menschen
trennen sich von der Kirche, vielleicht ohne den Glauben aufzugeben,
aber sie wollen die Mitgliedschaft nicht. Ich denke, es ist wichtig, die
positiven Seiten der Kirche zu stärken. Die Austritte betreffen oft
junge Leute, bei denen es allgemein ein gewisses Institutionenmisstrauen
gibt. Meiner Überzeugung nach sollten wir uns als offene Kirche nicht
wegen Zahlen fürchten, sondern auf unsere Glaubwürdigkeit achten.
wien.ORF.at: Ist der heutige Individualismus der schlimmste Feind des Glaubens?
Bünker:
Die evangelische Tradition betont sogar die individuelle Freiheit der
Person, aber keine grenzenlose Autonomie. Diese ist meiner Meinung nach
ein liberales Missverständnis der Aufklärung.
wien.ORF.at: Martin Luther ist Begründer der Reformation, gilt als Freiheitsheld und spätestens seit seinem Spätwerk als Antisemit. Wie thematisiert die evangelische Kirche diesen „Judenhass“?
Bünker:
Davon distanzieren sich die evangelischen Kirchen deutlich, die
österreichische sagt sogar: „Wir verwerfen diese Ansichten.“ Zu den
Schattenseiten kann man auch seine Position im Bauernkrieg rechnen, die
seinem Freiheitsgedanken völlig zuwiderläuft. Luther war mit einem Bein
noch im Mittelalter. Er war sicher kein moderner Mensch in seinen
Ansichten. Trotzdem hat er durch seine Überzeugungen Impulse gesetzt,
die zur Entstehung der modernen Gesellschaft beigetragen haben.
wien.ORF.at: Glauben Sie, dass Luther öffentlich ausreichend kritisch dargestellt wird?
Bünker:
Ihn wie einen Helden auf ein Podest zu stellen, wofür Luther-Denkmäler
sprechen, ist jedenfalls keine heutige evangelische Sicht. Seine großen
Leistungen sind die Bibel-Übersetzung und die Forderung nach Bildung für
alle. Und natürlich zu seiner Meinung zu stehen. Er hat sich auf drei
Autoritäten berufen: Die Vernunft, die Bibel und sein Gewissen. Den
gängigen Autoritäten, wie dem Papst und dem Kaiser, Gültigkeit
abzusprechen, war mutig. Von dem Mut zur eigenen Meinung zu stehen,
bräuchte man heute manchmal mehr.
wien.ORF.at: Es gibt auch im Neuen Testament Stellen, in denen Juden als „Söhne des Teufels“ bezeichnet und Verfolger Jesus dargestellt werden. Ist das Neue Testament antisemitisch?
Bünker: Schwer zu
sagen, da so gut wie alle Schriften des Neuen Testaments von Juden,
vielleicht sogar Jüdinnen, verfasst wurden. Zur Zeit seiner Verfassung
hat sich das Christentum vom Judentum abgelöst. Heute lesen wir das Neue
Testament aber nicht mehr unter dem Aspekt der Abgrenzung. Das
Christentum kann man nicht ohne Judentum verstehen.
wien.ORF.at: Papst Franziskus plädierte Anfang des Jahres für ökumenische Offenheit, es gab sogar ein gemeinsames Gedenken an die Reformation. Das klingt erfreulich?
Bünker: Die Bedenken, die es von
römisch-katholischer Seite gegenüber einem Jubelfest zum Jubiläum der
Reformation gibt, waren tatsächlich vor fünf Jahren stärker. Da hieß es:
Eine Scheidung kann man nicht feiern. Durch Papst Franziskus ist die
Wertschätzung gekommen, dass Luther und keiner der Reformatoren im 16.
Jahrhundert die Spaltung der Kirche beabsichtigt hatte. Es ging darum,
die Ursprünge wieder freizulegen.
wien.ORF.at: Wird sich die katholische Kirche an den Feierlichkeiten am Rathausplatz beteiligen?
Bünker:
Wir haben für das Fest am Rathausplatz keine offiziellen Einladungen
ausgesprochen. Das ist ein offenes, buntes Fest für alle. Der offizielle
Festakt ist am 24. Oktober im Musikverein, da gibt es schon die Zusage
vom Kardinal, dass er ein Grußwort spricht. Also ja! Generell beteiligt
sich die katholische Kirche, es gibt zahlreiche Einladungen an
katholische Pfarrer in evangelischen Kirchen zu predigen und umgekehrt.
wien.ORF.at: Wie prägt die Reformation denn heute noch unsere Gesellschaft?
Bünker:
Etwa im Bereich der Bildung. Überall wo die Reformation Fuß fasste,
wurden Schulen für alle sozialen Schichten, Mädchen wie Buben,
gegründet. In Österreich entscheidet die soziale Herkunft noch heute zu
oft über den Schulabschluss. Das zweite, woran man erkennen kann, dass
die Reformation in einem Ort Fuß gefasst hat, da denke ich zum Beispiel
an St. Pölten, wo das gut erforscht wurde: Die Stiftungen und
Erbschaften der Menschen wurden plötzlich nicht mehr für Messen und
Wallfahrten verwendet, sondern fürs Bürgerspital. Zum reformatorischen
Aufbruch gehört von Anfang an die Frage nach der Versorgung der Armen.
wien.ORF.at: Außenminister Sebastian Kurz (ÖVP) plädiert ja für eine komplette Schließung der Mittelmeerroute, und ein Rückführen der geretteten Bootsflüchtlinge in afrikanische Aufnahmelager. Halten Sie das für praktikabel?
Bünker: Ich sehe diese Aufnahmelager
nicht. Wir haben derzeit in den Ländern Ostafrikas, Somalia, Südsudan,
Kenia etwa 15 Millionen Menschen, die vor Krieg oder Dürrekatastrophen
fliehen. In Österreich bringt die Bevölkerung im Jahr 2,70 € pro Kopf
für humanitäre Hilfe auf. Andere Länder, wie etwa Schweden, zahlen das
40-fache. Erst am Brenner festzustellen, dass Menschen ihre Heimat
verlassen müssen, ist zu spät. Es ist zu spät, die Mittelmeerroute zu
schließen. Das führt dazu, dass es für Flüchtlinge teurer und
gefährlicher wird. Man muss viel mehr dort ansetzen, wo die Ursachen
liegen.
wien.ORF.at: Wenn wir jetzt aber die Ursachen vor Ort bekämpfen, werden sich wahrscheinlich in den nächsten Jahren trotzdem noch sehr viele Menschen auf den Weg machen…
Bünker:
Die kleine, evangelische Waldenserkirche in Italien mit etwa 30.000
Mitgliedern hat gemeinsam mit der katholischen Gemeinschaft Sant‘ Egidio
und der Republik Italien ein Programm auf die Beine gestellt, um
humanitäre Korridore, also legale Migrationsmöglichkeiten nach Europa zu
schaffen. Das geht nur, weil die Waldenser die Integrationsleistung des
ersten Jahres garantieren. Die Menschen kommen bei Kirchenmitgliedern
unter und werden von ihnen versorgt. Es ist eine alte Forderung, dass es
legale Zugangswege braucht. Man muss den Zwang, sich kriminellen
Schleppern auszuliefern, stoppen.
wien.ORF.at: Glauben Sie, dass Europa schon an den Grenzen ist, was die Aufnahmekapazitäten angeht?
Bünker:
Objektiv gesehen nicht. Wir erleben ein starkes Polarisieren im
Wohlstandsgefälle und deswegen wird die Aufnahme als so bedrohlich
erlebt. Die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft ist
offensichtlich und das wäre auch ohne Flüchtlinge so. Jetzt sind die
Flüchtlinge der Sündenbock und man kann sagen: Wir kürzen die
Mindestsicherung, weil es sie gibt.
wien.ORF.at: Wie kann man denn als Kirche den Leuten begegnen, die sich von flüchtenden Menschen bedroht fühlen?
Bünker:
Das ist schwierig, weil es ja nur durch Vertrauen ginge. Wenn der
christliche Glaube uns etwas gibt, dann die Gewissheit, uns nicht von
unseren Ängsten leiten zu lassen. Es heißt in der Bergpredigt: Sorgt
euch nicht! Das als Ausgangspunkt zu nehmen und dann nüchtern über
Probleme zu sprechen, finde ich besser als zu sagen: Wir sind bedroht.
Das führt nur zu schiefen Konsequenzen.
wien.ORF.at: Wie kann man sich den typischen Bischofsalltag vorstellen?
Bünker:
Ich bin als Bischof Vorsitzender in Kirchenleitungsgremien, und habe
mit allen Fragen der kirchlichen Verwaltung und Organisation zu tun.
Dann ist der Bischof so etwas wie der gesamtösterreichische Pfarrer,
viel Reisetätigkeit, Besuche in Pfarrgemeinden, das mache ich sehr
gerne, denn die Vielfalt ist enorm. Von einer burgenländischen Gemeinde,
die sehr geschlossen im Ort liegt, hin zu einer Diasporagemeinde im
Westen Tirols gibt es massive Unterschiede. Die Vertretung der Kirche in
der Öffentlichkeit spielt auch eine große Rolle.
wien.ORF.at: Sie sind begeisterter Schlagzeuger in einer Band namens „Kreuzweh“ und traten mitunter auch als Kabarettist auf. Ist das ein Ausgleich zu dem den ganzen geistlichen Themen, mit denen Sie sich sonst befassen?
Bünker:
Für mich ist es auch Ausdruck meiner Glaubensfreude. Ich finde Musik
ist immer ein Gottesgeschenk, selbst laute Rockmusik. Und der Humor ist
im schlimmsten Fall die letzte Waffe der Hoffnung, hat einmal jemand
gesagt.
wien.ORF.at: Sie verbringen Ihre Sommer gerne auf einer Hütte ohne Strom. Warum?
Bünker:
Ich bin immer dankbar, wenn man merkt, dass man nicht alles braucht,
was man jeden Tag hat. Meistens braucht man viel weniger und um das muss
man sich mehr bemühen. Damit es warm wird, muss das Holz gehackt und
das Feuer gemacht werden. Und dann gibt es solche Urerfahrungen. Wenn
wir abends ankommen und den Motor abdrehen, ist es plötzlich still. Und
finster. Das sind zwei Dinge, die ich sonst fast nie erlebe. Beides ist
sehr religiös aufgeladen. Gott begegnet in der Stille, Gott will im
Finsteren wohnen. Da bin ich im Einklang.
Das Interview führte Sarah Nägele, wien.ORF.at
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