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Undemokratisch zur Demokratie?

Tunesiens Präsident will mit Dekreten regieren und so eine Verfassungsreform vorbereiten

Es handele sich um ein „politisches und verfassungsrechtliches Erdbeben", sagte der Verfassungsrechtler Rabeh Khraifi in einem tunesischen Radiosender am Morgen nachdem Kais Saied die neuen Maßnahmen bekanntgegeben hatte - und das, obwohl er davon ausgehe, dass der Präsident sich nach wie vor im Rahmen der Verfassung bewege. Die prominente Juristin Sana Ben Achour warf Kais Saied vor, die Bevölkerung zu manipulieren. „Heute Abend sind die Masken gefallen", schrieb sie, kurz nachdem der Präsident angekündigt hatte, nun per Dekret zu regieren. Das Staatsoberhaupt habe die Macht des Volkes konfisziert, indem er sich zu selbst dessen alleinigen Vertreter aufschwinge, so Ben Achour.

In einem am Mittwochabend im Amtsblatt veröffentlichten Dekret hatte der Präsident weite Teile der tunesischen Verfassung außer Kraft gesetzt. Bereits zu Beginn der Woche hatte er in einer Rede in der zentraltunesischen Kleinstadt Sidi Bouzid diese neuen Maßnahmen angekündigt. Dort hatten im Winter 2010 die Proteste begonnen, die letztendlich zum Sturz der Diktatur von Ben Ali geführt hatten.

Zerstrittenes Parlament

Er werde in Zukunft Gesetze per Dekret erlassen, ließ Saied mitteilen, und selbst einen neuen Regierungschef und ein Kabinett ernennen. Die Arbeit des Parlaments bleibt nach wie vor ausgesetzt. Lediglich die allgemeinen Bestimmungen der Verfassung, die nach der Flucht von Langzeitherrscher Zine El Abidine Ben Ali im Januar 2011 erarbeitet worden war, und das Kapitel zu Rechten und Freiheiten der Bürger bleibe in Kraft.

„Die aktuellen politischen Institutionen sind, so wie sie funktioniert haben, eine dauerhafte Bedrohung des Staates. (...) Das Parlament selbst bedroht den Staat", hatte Saied Ende August erklärt. Dies legitimiere sein Vorgehen.

Der 63-jährige parteilose Kais Saied, der im Herbst 2019 mit fast drei Viertel der Stimmen im zweiten Wahlgang zum Präsidenten gewählt worden war, ist selbst pensionierter Dozent für Verfassungsrecht. Seine Auslegung des Notstandsrechts, auf das er sich seit seiner Machtübernahme am 25. Juli bezieht, ist jedoch hochumstritten. Damals hatte er Regierungschef Mechichi entlassen, das Parlament in eine Zwangspause geschickt und die Immunität der Abgeordneten aufgehoben. Mit den neuen Anordnungen hat er ihnen nun auch die Diäten gestrichen.

Referendum über neue Verfassung geplant

Saied will jetzt mit Unterstützung von Fachleuten eine Reihe von Reformen der Verfassung erarbeiten, die dann der Bevölkerung in einem Referendum zur Abstimmung vorgelegt werden sollten. Wahrscheinlich wird der Präsident das politische System und das Wahlrecht ändern. In der Vergangenheit war das Parlament so zersplittert gewesen, dass es nicht handlungsfähig war und keine Regierung über eine stabile Mehrheit verfügte. In den zehn Jahren seit der Revolution hatte Tunesien neun Regierungschefs.

Während Kais Saied von einer Reihe kleinerer, panarabistisch-nationalistischer Parteien unterstützt wird, werden die kritischen Stimmen aus den Reihen der Politik lauter.

Erster Protest gegen neuen Präsidenten

Neben der islamisch-konservativen Ennahdha-Partei, der größten Fraktion im ausgesetzten Parlament, kritisierten in den vergangenen Tagen auch eine Reihe sozialdemokratisch und wirtschaftsliberal orientierter Parteien die Machtkonzentration in den Händen des Präsidenten. Auch der einflussreiche Gewerkschaftsbund UGTT rief mehrfach dazu auf, einen Weg aus der politischen Krise zu finden, der alle politischen Akteure mit einbinde.

Am vergangenen Wochenende hatte in Tunis erstmals eine Protestkundgebung gegen Präsident Kais Saied stattgefunden. Rund 300 Demonstrierende, hauptsächlich aus dem islamisch-konservativem Spektrum, forderten das Ende des Notstands und die Wiedereinsetzung des Parlaments. Für den kommenden Sonntag rufen sie erneut zu einer Demonstration „gegen den Putsch" auf.

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