Beim „Alternativen Winterzusammenkommen“ leben die Teilnehmer eine Woche lang ohne Geld und Luxus. Sie haben fast nichts – aber gelernt, auch ohne Besitz glücklich zu sein. ZiSH hat das Treffen begleitet.
Im Flur riecht es nach Obst und Gemüse. Kisten mit Pilzen, Salatköpfen, Tomaten und sind dicht an dicht an der Wand aufgestapelt. „Wir haben ausgerechnet, dass jeder von uns 200 Mandarinen essen müsste, damit die Kisten leer sind", sagt Tobias Rosswog. Der 23-jährige gebürtige Wunstorfer wird von allen bloß Tobi genannt. Für ihn und die 21 anderen Teilnehmer des „Alternativen Winterzusammenkommens", kurz „Alwizuko", lebt es sich dadurch ein bisschen wie im Schlaraffenland - auch wenn die Teilnehmer eigentlich gegen Überfluss sind. Manche der Lebensmittel haben schon matschige Stellen. Im Supermarkt wären sie längst in der Mülltonne gelandet. Doch genau das wollen Tobi und seine Mitstreiter verhindern. Sie wollen keine Wegwerfgesellschaft, sondern nutzen, was schon da ist. Was sie selbst nicht zum Leben brauchen, verteilen sie an andere.
Beim „Alwizuko" geht es auch darum, sich über eine Gesellschaft auszutauschen, in der alle Menschen gleichberechtigt sind und harmonisch miteinander leben. Für eine Woche leben die Teilnehmer gemeinsam im Wunstorfer Jugendzentrum Bau-Hof, schlafen in Schlafsäcken auf dem Boden, teilen sich die wenigen Badezimmer - und überlegen, wie ein Leben ohne Konsum und Geld möglich ist.
Leben ohne Geld
Tobi lebt schon seit knapp zwei Jahren ohne einen Cent im nicht vorhandenen Portemonnaie. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, durchs Land zu reisen und seinen nachhaltigen Lebensstil in Workshops, Seminaren und Projekten wie dem „Alwizuko" mit anderen Menschen zu teilen. „Dieses Jahr war ich maximal zwei Wochen an einem Ort", sagt er. In seinem Zimmer in Kempten, das ihm ein Unterstützer kostenlos zur Verfügung stellt, ist Tobi daher selten. Ein normaler Tag beginnt für ihn um 6 Uhr morgens. Tobi beantwortet Mails auf seinem veralteten Laptop aus Studienzeiten, bildet sich selbst weiter in Themen, die für seine Projekte wichtig sind, besucht hin und wieder Seminare oder gibt selbst Workshops. „Zwischen Arbeit und Freizeit unterscheide ich nicht. Nach dem Job nach Hause kommen, die Füße hochlegen und ein Bierchen trinken, ist nicht das, was ich will", sagt er.
Gemeinsam mit seiner Freundin Pia lebt Tobi das konsumfreie Leben unter allen „Alwizuko"-Teilnehmern am radikalsten. Sie reisen per Anhalter. In Umsonstläden bekommen sie gebrauchte Klamotten. Und in Supermärkten fragen sie nach abgelaufenen Lebensmitteln, die nicht mehr verkauft werden dürfen.
Veganismus, Toleranz, Alternative zum Kapitalismus
Die 27-jährige „Alwizuko"-Teilnehmerin Nadine ist von Tobis Kompromisslosigkeit beeindruckt: „Ich könnte im Moment noch nicht komplett ohne Geld leben. Aber ich habe gelernt, dass es möglich ist." In ihrem Leben hat sie schon eine Menge verändert: Ihren Job als Polizistin hat Nadine aufgegeben. Inzwischen arbeitet sie als Yogalehrerin. Damit verdient sie weniger, ist aber um einiges glücklicher. Doch beim „Alwizuko" geht es nicht nur um das Leben ohne Geld: Auch Themen wie vegane Ernährung, Toleranz und eine Alternative zum Kapitalismus werden von den Teilnehmern diskutiert.
Dafür sitzen Tobi, Pia, Nadine und die anderen im Stuhlkreis. Viele tragen bunte und schlabbrige Haremshosen, Strickpullis, Jesuslatschen, die meisten haben lange Haare. Gemeinsam lesen und diskutieren sie den ziemlich abstrakt formulierten Aufsatz „Repressive Toleranz" von Herbert Marcuse. Darin geht es um eine Gesellschaft, in der Menschen harmonisch zusammenleben und es genug Essen, Wohnraum und Kleidung für alle gibt und niemand benachteiligt ist. Das ist eine Vorstellung, die Tobi teilt. „Für mich war nie klar, warum manche Menschen Geld haben, während andere ohne Grundbedürfnisse auskommen müssen", sagt er. Vor eineinhalb Jahren gründete er deshalb das Aktionsnetzwerk „Living Utopia", zu Deutsch „gelebte Utopie". Durch das Netzwerk findet er Mitstreiter, die seine Vorstellungen teilen und mit ihm Projekte realisieren.
Hilfe ist selbstverständlich
Bei allen „Living Utopia"-Projekten gibt es nur vegane Gerichte. Die Zutaten für das Abendessen holen Tobi und Nadine heute bei der Wunstorfer Tafel ab. Geschäftsführer Frank Löffler begrüßt Tobi mit einer langen Umarmung. „Nehmt euch, was ihr wollt", sagt Löffler, „alles, was ihr hier seht, ist Müll." An dem Tag waren nur wenige Kunden da und viele Lebensmittel halten nicht bis zum nächsten Öffnungstermin in einer Woche. Tobi und die anderen stapeln Kisten in einen mitgebrachten Einkaufswagen und auf ein Rollbrett. Auf dem Nachhauseweg schieben sie Wagen und Rollbrett über schiefe Bürgersteige, Kopfsteinpflaster und Schnee. Kurz vor dem Bau-Hof bricht ein Rad des Rollbretts ab. Tobi läuft vor, um Hilfe zu holen. Es dauert nicht lange, bis alle „Alwizuko"-Teilnehmer herbeieilen und in Zweierteams die Kisten zum Jugendzentrum schleppen. Denn gegenseitige Hilfe ist für sie selbstverständlich.
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