Das mysteriöse Leiden der Landarbeiter in Mittelamerika
17. Februar 2012 00:01 Uhr
ReportageTod im Zuckerrohrfeld: Zehntausende Landarbeiter erkranken in Mittelamerika an mysteriösem Nierenversagen. Ärzte vermuten, dass sie zu hart arbeiten müssen für die Agroindustrie.
Pablo lächelt selten. Stumm sitzt der Achtjährige vor seinem Heft und blickt durch seinen Lehrer hindurch. Ein bleierner Schleier scheint über seinem dunklen Lockenkopf zu liegen, fast so wie die ewige Staubwolke, in die der heiße Wind den Ort hüllt. Die Schule von La Isla ist gepflegt für ein so kleines Dorf inmitten der weiten Zuckerrohrfelder im Westen Nicaraguas. Seit einiger Zeit gibt es sogar Computer. "Seit die Medien anfingen, über uns zu berichten", sagt Lehrer Roger de la Cruz. Von seinen 320 Schülern sind ein Drittel Waisen. Ihre Väter sind gestorben, mit 40, mit 30. Der 6000 Einwohner zählende Ort wird im Volksmund nur noch die Insel der Witwen genannt. Alle Männer starben an der gleichen Krankheit: chronischem Nierenversagen.
Eigentlich eine Zivilisationskrankheit, die ältere Menschen trifft und meist mit Bluthochdruck und Diabetes einher geht. Doch nichts davon trifft auf die Toten von La Isla zu, fast alle waren junge Männer, Landarbeiter. Sieben von zehn Männern sind nach Auskunft der Nicht-Regierungs-Organisation "La Isla" in dem Ort nierenkrank, in Europa ist es einer. La Isla ist kein Einzelfall. In El Salvador ist Nierenversagen die zweithäufigste Todesursache bei Männern, in Nicaragua sterben mehr Menschen an Nierenversagen als an Aids und Diabetes zusammen. 24 000 Tote waren es in den vergangenen zehn Jahren in Nicaragua und El Salvador. Von 2005 bis 2009 wuchs die Zahl laut der Panamerikanischen Gesundheitsorganisation in Nicaragua um 41 Prozent, in El Salvador und Guatemala um 26 Prozent. Besonders hoch ist der Anteil im feuchtheißen Tiefland, wo Zuckerrohr angebaut wird.
"Das Nierenversagen rafft unsere Bevölkerung dahin", sagte Salvadors Gesundheitsministerin Maria Isabel Rodriguez vor einem Jahr auf einem UN-Gesundheitsministertreffen. Sie wollte die neue Krankheit auf die Liste chronischer Leiden setzen - und stieß auf erbitterten Widerstand der USA. Rodriguez vermutet deshalb einen Zusammenhang mit dem jahrelangen Einsatz giftiger Pestizide wie DDT und Paraquat. Das brächte internationale Chemiekonzerne aus den USA, der Schweiz und Deutschland in die Schusslinie. Und auch einheimische Firmen wie den Zuckerkonzern Pellas. Milliarden stehen auf dem Spiel. Denn der Konzern plant, seine Zuckerrohrproduktion auszuweiten für den Ethanol-Export in die USA und nach Europa. Zehn Prozent des Treibstoffs sollen laut EU-Richtlinie bis 2020 mit Agrotreibstoffen versetzt werden. Auch die Politik spielt mit in dem dubiosen Spiel. Die USA fördern einem Wikileaks-Bericht zufolge Agrotreibstoffe in Mittelamerika, um den Einfluss des venezolanischen Linkspräsidenten Hugo Chavez zu konterkarieren, der mit Petrodollars und billigen Erdöllieferungen seine Fühler in den Hinterhof der USA ausgestreckt.
Aurora Aragón weiß, was auf dem Spiel steht. Die Wissenschaftlerin von der Staatlichen Universität in León sitzt hinter einem abgewetzten Schreibtisch. Die Medizinerin ist die erste, die in Nicaragua die mysteriösen Todesfälle vor zehn Jahren entdeckt und untersucht hat. Der geheimnisvolle Tod lässt sie nicht mehr los. Sie hat Nierenwerte gemessen, Vergleichsstudien angestellt, Blutwerte und Grundwasser untersucht. Mit wenig Mitteln, kaum staatlicher Unterstützung und einer Blockade durch Pellas. Aragón spricht leise, kaum übertönt ihre Stimme das Brummen der Klimaanlage. Sie ist vorsichtig, will sich nicht aus dem Fenster lehnen, ohne wissenschaftliche Beweise zu haben: "Es gibt mehrere Hypothesen. Vergiftung durch Pestizide oder extreme Arbeitsüberlastung in heißem Klima ohne ausreichend Wasserzufuhr", zählt sie auf.
Analysen des Grundwassers haben zwar Belastungen mit Schwermetallen, Schädlingsbekämpfungsmitteln und Bakterien ergeben, aber sie liegen unter den weltweit zulässigen Höchstnormen. Arbeiten sich die Männer zu Tode? Immer mehr scheint darauf hinzudeuten. Zuckerrohrschneider arbeiten als Tagelöhner im Akkord und bekommen ein Plus, wenn sie das vorgegebene Soll übererfüllen. Jede Minute, die mit Trinken oder mit einer Pause verbracht wird, ist "verlorene Zeit". Und noch einer neuen Vermutung geht derzeit ein US-Professor nach: dem Klimawandel. Er wird Temperaturkurven und Nierenerkrankungen in Nicaragua, Indien, Australien und Indonesien vergleichen. "Dies könnte möglicherweise erklären, warum das Phänomen erst in den 90er Jahren auftrat ", sagt Aragón.
Pablos Vater Salomón Marcelino Vargas sitzt er in einem Plastikstuhl vor seiner Ziegelsteinhütte, gekrümmt vor Schmerzen. Neun Jahre lang schuftete er als Tagelöhner auf einer Plantage. Pellas war lange der einzige Arbeitgeber weit und breit. 4200 Angestellte plus 1400 Saisonarbeiter hat Pellas. Am schlechtesten dran sind die Zuckerrohrschneider. Von morgens sechs bis um 15 Uhr war Vargas ohne Schutzkleidung unter sengender Sonne auf den Feldern, pflanzte Zuckerrohr, legte Bewässerungsgräben an, versprühte Chemikalien gegen Schädlinge. Sein Wasser musste er mitbringen. Vor zwei Jahren wurde auch bei ihm bei einer Routinekontrolle durch den Betriebsarzt ein erhöhter Kreatininwert festgestellt. Vargas wurde nicht wieder eingestellt. Er hat sieben Kinder, das jüngste ist gerade einmal zwei.
Bei neun liege sein Kreatininwert, sagt er. Das ist das Endstadium. Normal sind Werte um die 1,2. Vargas wird sterben, genauso wie sein Vater und zwei seiner Brüder. Alle in der Familie wissen das. "Ich bete zu Gott, dass er mir wenigstens diesen Sohn lässt", schluchzt seine Mutter Rosa, eine runzlige Frau. Erschöpft lehnt sie sich an den Türpfosten. Was aus ihren vaterlosen Enkeln wird? Rosa zuckt mit den Schultern. Viele Alternativen gibt es in La Isla nicht. Auch Rosas älteste Enkel, 21 und 23, arbeiten im Zuckerrohr. Die Mädchen des Dorfes wollen sich nicht mehr mit Zuckerrohrschneidern abgeben - aus Angst, jung zu verwitwen.
Alle im Dorf glauben, dass Pellas dahinter steckt. Doch das Unternehmen wäscht seine Hände in Unschuld. "Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern und der Erkrankung", sagt Firmensprecher Ariel Granera im neunten Stock des verspiegelten Firmensitzes in der Hauptstadt Managua. "Seit Jahren verwenden wir nur von der Regierung zugelassene Pestizide, die Arbeiter werden mit isotonischen Getränken und einem Mittagessen versorgt, haben ein Ruhezelt, wo sie sich im Schatten erholen können, und die Firma hat vier Millionen US-Dollar investiert für Medikamente, den Ausbau der Straßen und des Hospitals, für Mikrokredite und landwirtschaftliche Projekte", zählt er auf. Auf Rückfragen freilich reagiert er ausweichend. Wie lange die Firma schon so um das Wohl ihrer Arbeiter bemüht ist, wisse er nicht genau, wann die ersten Fälle der Firma aufgefallen seien auch nicht. Weitere Studien? Man sei im ständigen Gespräch mit den Opfern.
Die Einwohner haben
die Hoffnung aufgegeben.
Ganz ignorieren kann Pellas die Todesfälle nicht mehr. Als das Unternehmen 2006 einen Kredit bei der zur Weltbank gehörenden IFC beantragte, um eine Ethanol-Fabrik zu bauen, wurde dieser nach Protesten der Arbeiter zunächst auf Eis gelegt. Die Universität von Boston testete im Auftrag von Weltbank und Pellas Pestizidrückstände im Blut der Arbeiter und fand keine erhöhten Werte. Ein Persilschein für Pellas ist das nicht. "Alles deutet auf extreme Dehydrierung bei großer Hitze und schwerer körperlicher Arbeit hin", bestätigt auch David Brooks die Vermutungen seiner Kollegen aus Mittelamerika. Nicaraguas sozialistische Regierung ignoriert das Problem. Kosten für Dialyse und Nierentransplantationen sind unerschwinglich in einem der ärmsten Länder Lateinamerikas. Die Einwohner von La Isla haben die Hoffnung schon aufgegeben. Während Granera im Pellas-Hochhaus an der Reinwasch-Kampagne für das Unternehmen bastelt, kämpft Vargas um sein Leben. Und Dorflehrer de la Cruz tut sein bestes, um mit einem Animationsprogramm am PC ein Lächeln auf Pablos Gesicht zu zaubern.
Autor: Sandra Weiss