Sister Konietz und Sister Marichal sitzen sich auf ihren Schreibtischstühlen gegenüber. Sie lesen sich wie jeden Morgen um etwa 10 Uhr gegenseitig aus dem Handbuch "Vorsichtsmaßnahmen für den Umgang mit digitalen Medien" vor.
"Verwenden Sie Ihr Gerät nie, wenn Sie allein sind. Zu dieser Richtlinie zählt auch, dass Sie Ihr Gerät nicht mit ins Badezimmer nehmen und Sie es auch nicht nutzen, wenn Ihr Mitarbeiter im Badezimmer ist", trägt Sister Konietz laut vor. Nach ein paar Minuten gibt sie das Heft an Sister Marichal weiter, die die gleiche große Brille und blaue Bluse trägt. Sie fährt fort: "Verpflichten Sie sich mit Ihrem Mitarbeiter und anderen Missionaren gebetserfüllt dazu, Ihrem Mitarbeiter alle Posts, Kommentare und Nachrichten zu zeigen, bevor Sie sie abschicken."
Die beiden 19-Jährigen sind Missionarinnen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, bekannt als Mormonenkirche. Sie sind für 18 Monate auf Missionsdienst in Deutschland unterwegs. Sister Konietz heißt Leilani, Sister Marichal trägt den Vornamen Olivia. Doch während ihres Missionsdienstes nennen sie sich nur Schwestern. Sister Marichal wohnte zuvor in Luxemburg, Sister Konietz in Kanada. Jetzt teilen sie sich eine Mietwohnung der Kirche in Herne.
Das "Berufungsschreiben" führte sie nach Deutschland
Beide Frauen haben sich freiwillig für den eineinhalbjährigen Missionsdienst gemeldet. Wo sie ihren Dienst leisten, können sich die Missionare aber nicht selbst aussuchen. Sister Konietz und Sister Marichal erfuhren erst kurz vor ihrem Einsatz durch ein "Berufungsschreiben" vom Präsidenten der Kirche, dass sie in Deutschland leben werden. Ein Glücksfall für Sister Konietz, die in Deutschland aufgewachsen ist und die Sprache spricht. Sister Marichal lernte in einer Missionsschule der Kirche innerhalb weniger Monate Deutsch. Während der Mission ist der Tagesablauf der Frauen minutengenau vorgegebenen - jeden Vormittag ist eine Stunde für selbstständiges Sprachstudium reserviert. Sister Konietz lernt in dieser Zeit Französisch.
Die Mormonen haben keinen besonders fortschrittlichen Ruf. Kaffee, Alkohol und Zigaretten sind für die Mitglieder verboten. Die oft kinderreichen Familien der Kirche Jesu Christi leben sehr traditionell. Manche würden sagen rückwärtsgewandt. Doch die Kirche lockert viele Vorschriften. Seit Dezember 2018 dürfen zum Beispiel die Missionarinnen Hosen tragen. Davor waren nur Röcke erlaubt. Der größte Wandel jedoch vollzieht sich durch das Smartphone.
Die Mormonen sind in der digitalen Welt gut aufgestellt. Sie haben Accounts auf Facebook, Twitter, Instagram und Pinterest. Auch der sogenannte Prophet, die obersten Kirchenmitglieder und die amtierenden zwölf Apostel haben eigene Accounts auf Facebook und Twitter mit bis zu Hunderttausenden Followern.
"Gottgegebene Hilfsmittel unserer Zeit"
Die Führung der Kirche sieht Smartphones als "gottgegebene Hilfsmittel unserer Zeit". So steht es im Vorwort des Handbuchs für digitale Mediennutzung. Die Verwendung der göttlichen Werkzeuge kontrolliert die Kirche streng. Die Missionarinnen bekommen ihre Sim-Karten von der Kirche und müssen die Überwachungs-App IBM MaaS360 auf ihrem Handy installieren. Die Sisters finden das gut, erzählen sie, es schütze sie davor, bei der Mission etwas Falsches zu machen.
Waren früher pro Jahr zwei Anrufe nach Hause erlaubt, dürfen die Missionare seit Februar jede Woche über Skype oder WhatsApp mit ihrer Familie telefonieren. Ihre Termine und selbst gesteckten Tagesziele halten die Missionarinnen im Handy-Kalender fest. Für den heutigen Tag schreibt Sister Konietz drei Ziele auf: "mindestens drei Handynummern bekommen, den Zeitplan einhalten, Fotos machen".
"Freunde der Kirche"
Die Missionarinnen sind immer zu zweit unterwegs bei ihrer Aufgabe, den Glauben ihrer Kirche zu verbreiten und ihren Mitmenschen zu helfen, wie sie sagen. Sie sprechen die Leute auf der Straße und in der Bahn an, stellen sich, ihren Glauben und ihre Kirche vor und fragen nach Handynummern. Dann gründen sie mit jedem neu gewonnenen "Freund der Kirche" zu dritt eine WhatsApp-Gruppe und chatten mit ihm. Zurzeit haben sie nur männliche "Freunde der Kirche", die manchmal mehr an den hübschen jungen Frauen als an deren Glauben interessiert sind.
So auch Ali, der seinen echten Namen nicht im Zusammenhang mit den Mormonen veröffentlicht sehen will. Nach ein paar belanglosen Chatnachrichten schreibt er den beiden: "Hey ich will ehrlich zu euch sein. Der Grund wieso ich euch geschrieben habe ist, dass ich euch und eure Person interessant fand." Er sei überzeugter Muslim und es tue ihm leid, falls er die Zeit der beiden verschwendet habe.
Die Antwort der Sisters kommt 15 Minuten später: "Danke dass du ehrlich bist. Wir sind aber hier nur für unsere Kirche. Ja wir respektieren deinen Glauben und wenn du irgendwann mal Interesse hast mehr über unseren Glauben zu lernen du hast unsere Nummer." Ali antwortet "Vielen Dank für euer Verständnis".
Nach ein paar Tagen schreibt er die Sisters erneut an, fragt sie nach dem Buch Mormon und sie chatten wieder miteinander. Der Verlauf ist voller lachender Smileys und die Sisters geben sich von ihrer charmantesten Seite: "Du hast gesagt dass wir vielleicht nicht die richtigen Leute ansprechen aber wir haben dich angesprochen also haben wir etwas richtig gemacht" - dann folgt ein Zwinker-Smiley.
Die drei treffen sich mehrmals pro Woche, heute im Park von Schloss Strünkede in Herne. Als die Sisters die U-Bahn-Treppe hinaufsteigen, wartet Ali schon gegenüber an einen Zaun gelehnt. Schwarzes T-Shirt, Jeans, dunkle Haare, Informatikstudent kurz vorm Bachelorabschluss. Er lächelt und kneift die Augen gegen die Sonne zusammen. "Hey, ihr habt ja heute beide das Gleiche an", begrüßt er sie. Die Sisters lachen. Auf dem Weg in den Park reden die drei über ihren Tag.
Sister Marichal: Wir haben studiert und waren danach an der Uni in Bochum und haben mit Leuten gesprochen.
Ali: Mehr habt ihr noch nicht gemacht?
Sie setzen sich auf eine Tischtennisplatte auf einem Spielplatz. Auf der Platte nebenan hängen Jugendliche mit Zigaretten und Rapmusik ab, rundherum toben und spielen Kinder. Ali holt das Buch Mormon aus seinem Rucksack, die Sisters nehmen ebenfalls ein Exemplar zur Hand, dazu ein paar Notizblätter und ihre Smartphones. Ali will schon etwas sagen, da unterbricht ihn Sister Konietz und erinnert ihn daran, dass sie erst beten.
"Lieber Vater im Himmel", beginnt sie in tiefer, monotoner Stimme. Sie und Sister Marichal haben den Kopf gesenkt, die Augen geschlossen und die Arme vor dem Bauch verschränkt. Ali beobachtet sie und hört zu, wie Sister Konietz Gott für den Tag dankt und um Segen bittet. "Und das sage ich im Namen Jesu Christi, Amen." Dann schauen die Missionarinnen Ali erwartungsvoll an.
Sister Konietz: "Sehr gut, hast du Fragen dazu?"
Ali: "Warum soll Nephi Laban töten, wenn Gott alle Menschen liebt?"
Sister Konietz grinst, reibt sich die Hände und rückt ihren Notizzettel zurecht. Sie hatte sich am Vormittag mit Sister Marichal genau auf diese Frage vorbereitet. Im vierten Kapitel im Ersten Buch Nephi bekommt der Prophetensohn Nephi den Auftrag, einen Mann namens Laban mit dessen Schwert zu köpfen.
Ali: "Hätte Gott Nephi nicht die Weisheit geben können, Laban mit Worten zu überzeugen?"
Sister Konietz: "Manchmal verstehen wir nicht gleich, warum Gott etwas macht. Aber Gott ist allwissend und er weiß, was richtig ist."
Als Ali nach einer Dreiviertelstunde immer noch Fragen hat, aber die Missionarinnen zum nächsten Termin müssen, sagt Sister Konietz: "Du kannst noch mehr darüber in der App der Kirche lesen. Du kannst sie kostenlos herunterladen." Die App beinhaltet das Buch Mormon und weitere heilige Schriften in digitaler Form, die Zeitschrift der Kirche, Texte mit Anleitungen für das Schriftenstudium und Hilfestellungen für den Alltag. Es gibt Videos zur Bibel, Videos für Feiertage und Spielfilme der Kirche. Die Nutzer können in ein digitales Notizbuch schreiben und Lesepläne erstellen.
Bevor sich die Sisters von Ali verabschieden, machen sie noch ein Selfie mit ihm. Das Foto wollen sie zu ihrer Sammlung im Tschüss-Buch hinzufügen, einer Art Tagebuch, das die Missionarinnen traditionell gegenseitig füreinander mit Texten und Fotos füllen. Es soll sie später an ihre Missionszeit erinnern, an die Momente, als sie einem jungen Muslim im Park ihren Glauben näherbrachten, als sie mit mental beeinträchtigten Menschen einer Lebenshilfe-Wohngruppe im Park spazieren gingen oder als sie einen Schneemann bauten. Als Sister Konietz im Schlafanzug auf dem Sofa lag oder Sister Marichal zum allerersten Mal mit Hose statt Rock auf die Straße ging.
Im Tschüss-Buch sammeln die Sisters auch ihre lustigsten oder kuriosesten WhatsApp-Kommunikationen mit ihren "Freunden der Kirche". Ein paar von ihnen, die zu aufdringlich wurden, haben sie blockiert, nachdem sie sich im Gebet Rat von Gott geholt hatten.
Aber so läuft es nicht immer. Ein ehemaliger Muslim namens Mert hat sich vor Kurzem taufen lassen. Pascal, 26-jähriger Auszubildender zum Oberflächenbeschichter, ist seit November Mitglied der Kirche. Ihn treffen sie immer noch regelmäßig, um ihm in der Anfangszeit Fragen zu beantworten.
"Glauben Sie an Gott?"
Jeden Tag sind sie zudem weiter auf der Suche nach Menschen, die sie bekehren können. Heute fahren sie zur Fußgängerbrücke auf dem Campus der Ruhr-Universität Bochum. Schon auf dem Weg sprechen sie die Fahrgäste im Bus und in der U-Bahn an. "Guten Tag, sind Sie auf dem Weg nach Hause oder zur Arbeit?" oder "Guten Tag, mir gefallen Ihre Schuhe", sagen sie zur Person gegenüber, die den Blick auf das Smartphone oder ein Buch gesenkt hat und dann überrascht hochschaut. Dann zeigen die Sisters auf ihre Namensschilder, erklären, wer sie sind, fragen "Kennen Sie die Kirche Jesu Christi?" und "Glauben Sie an Gott?".
Manche ignorieren die Missionarinnen, ein Mann Mitte 40 grummelt etwas von Unglaube, während er weiter auf seinem Smartphone scrollt. Eine Jura-Studentin flüstert, sie zweifle nicht an ihrer Religion, während ihr Blick aus den Augenwinkeln zu den anderen Fahrgästen huscht. Niemand sonst im U-Bahnabteil redet. Wenn ihr Gesprächspartner kein Interesse zeigt, stehen die Sisters auf, setzen sich gegenüber von anderen Leuten hin und beginnen von vorne. Während der Fahrt bekommen sie von niemandem die Handynummer.
Auf der Fußgängerbrücke auf dem Campus der Uni Bochum laufen die meisten Passanten weiter, wenn die Missionarinnen sie ansprechen. Mitunter werden sie aber auch in unangenehme Gespräche verwickelt. Eine Radfahrerin bleibt stehen. Sie erzählt, sie sei Anhängerin einer evangelischen Freikirche und konfrontiert die Missionarinnen mit Kritik an deren Religion. Die Sisters versuchen zu kontern. Doch die Frau lässt sie kaum zu Wort kommen.
Solche Gesprächspartner seien selten, erzählen die beiden. Mit den meisten Menschen plaudern sie darüber, wie ihnen ihr Glaube im Leben hilft. Sie beantworten einem Mann Mitte 40 die Frage: "Was sage ich meiner Freundin, um ihr die Angst vor der Hölle zu nehmen?". Und sie brechen das gegenseitige Anschweigen in der U-Bahn, lassen die Leute von ihren Bildschirmen aufblicken und schenken ihnen einen Moment der Aufmerksamkeit.
Auf der Fußgängerbrücke bringen sie einige Leute mit ihrem Lächeln dazu, kurz auf ihrem Weg zur Bahn, zur Vorlesung oder Arbeit anzuhalten. Wenn die Sisters erzählen, strahlen ihre Augen und in ihrer Stimme schwingt feste Überzeugung mit.
Nach einer Stunde auf der Fußgängerbrücke haben sie von drei Passanten die Handynummern bekommen.