Wenn Manal Alkallas und Loay Alhameadi erzählen, was ihre Familie seit dem Sommer erlebt hat, bekommt man das Gefühl, ihr Weg nach Deutschland hätte Jahre gedauert. Tatsächlich war es erst im Juni 2015 - an einem Donnerstag kurz nach Ramadan - als sie ihre Heimat im Südwesten Syriens etwas außerhalb von Damaskus verließen. Ob sie jemals zurückkehren können, wissen sie bis heute nicht.
Das Leben der fünfköpfigen Familie zu Hause war geprägt von Angst. Vor den IS-Extremisten. Vor Luftangriffen auf den Stützpunkt der Terroristen an der nahegelegenen syrisch-libanesichen Grenze. Davor, dass das eigene Haus eine der Bomben abbekommt. „Jede Nacht gingen wir schlafen und wussten, dass die Nacht bald vorbei sein könnte: Vielleicht durch einen lauten Knall im Dorf, vielleicht auch durch den Lauf einer Waffe, die auf dein Gesicht gerichtet ist", erinnert sich Alkallas. Sie wollte es nicht länger zulassen, dass ihre drei Kinder Obay (11), May (7) und Alma (6) länger in dieser Angst aufwachsen.
Beide Eltern sind Akademiker, Vater Loay Energietechniker, Mutter Manal IT-Spezialistin, sprechen fließend Englisch und fragen sich, wie sie überhaupt in so eine Situation kommen konnten. „Vor einigen Jahren noch haben wir in Katar gelebt. Die Kinder besuchten britische Kindergärten und Schulen und wuchsen in der Hoffnung auf ein Leben ohne Krieg auf", erinnert sich Loay. Ihr Leben änderte sich schlagartig, als alle syrischen Visa ungültig wurden. Die Familie musste zurück in die Heimat, wo Terrorismus und Gefahren von Tag zu Tag größer wurden.
„Die Flucht war die Hölle"
Die Familie buchte Bustickets nach Tripoli, war zwei Tage lang unterwegs. Von dort aus ging es mit dem Schiff in die Türkei, wo sie zunächst bei einem Freund Unterschlupf fanden. „Er bot uns an, in seinem Haus wohnen zu bleiben, bis alles vorbei ist. Doch die Gerüchte, dass Syrer bald aus der Türkei abgeschoben werden könnten, wurden lauter und lauter", erinnert sich Alhameadi. Die Reise musste weitergehen.
„Und dann kam die Hölle", leitet seine Frau die Erzählungen ein, die in der nächsten Stunde anhand von Karten-Apps auf dem Handy der Familie und einem mit blauem Holzstift vollgekritzelten Blatt aus der Spielzeugkiste der Kinder erklärt wird. Hier ein Fluss, da die Stelle in einem Reisfeld, wo griechische Soldaten die ungebetenen Gäste mitten in der Nacht auf türkischem Staatsgebiet ausgesetzt hatten, unter dem Vorwand, ihnen helfen zu wollen. Alhameadi erzählt es, als sei es erst gestern gewesen. Tatsächlich war es irgendwann im August, nur wenige Wochen, bevor es der Familie beim zweiten Versuch gelang, nach Europa zu kommen.
Doch auch auf dieser Strecke erlebten sie immer wieder die Hölle: In Form von Schleuserbanden ohne jegliches Mitgefühl, dafür allerdings mit mafiösen Organisationsstrukturen, die mit den Flüchtlingen aus den Kriegsgebieten Geld machen wollten. Als sie von Ungarn erzählt, fragt Alkallas ihre siebenjährige Tochter May, die sich fließend auf Englisch unterhalten kann, ob sie sich noch erinnern kann, wie oft sie unterwegs in einem Gefängnis wohnen mussten. „Drei Mal. In der Türkei, in Griechenland und in Ungarn. In Ungarn war es am schlimmsten", lautet die Antwort des kleinen Mädchens, das Minuten vorher noch lächelnd in ihrer Spielzeugkiste kramte. Dort bewahrt sie Puppen und Stofftiere auf, die man ihr und ihren Geschwistern in Deutschland geschenkt hat. Mutter Manal sieht ihre Töchter über den Rand ihrer Brille an. Ihre Kinder haben Dinge erlebt, die man ihnen gerne erspart hätte.
Doch schließlich war es genau der Gedanke an die Zukunft der Kinder, die die Familie angetrieben hatte, trotz alledem weiterzumachen, irgendwann die österreichische Grenze zu erreichen, ohne Handy, mit nur noch wenig Geld. Die Flucht hatte die Familie umgerechnet mehrere tausend Euro gekostet. Die Handys waren bei Gefängnisaufenthalten und Schleuseraktionen spurlos verschwunden.
In Österreich dann erlebten Alhameadis zum ersten Mal seit langer Zeit wirkliche Hilfsbereitschaft in Form einer Frau namens Maria. Sie hatte sich mit ihrem Auto am Grenzübergang stationiert, um Flüchtlingen den Fußweg in Richtung Wien zu ersparen. Sie lud die Familie ein, bot ihr für kurze Zeit Unterschlupf und kaufte Zugtickets nach Frankfurt. Hier sollten die Alhameadis in einem Zimmer in der Wohngemeinschaft einer Freundin unterkommen. Das war Mitte September, gut sieben Wochen, nachdem die Familie den Entschluss gefasst hatte, zu fliehen.
Als die Eltern an diesem Teil der Erzählung angelangen, verändert sich die Stimmung merklich. Wo vorher Angst und Sorge um die Kinder mitklangen, sind nun Dankbarkeit und Hoffnung auf ein besseres Leben. Mitten in seinen Erzählungen über die Ankunft in Frankfurt, steht Loay Alhameadi auf und verlässt das Zimmer. Wenige Sekunden später kommt er mit einem gigantischen Schild in der Hand zurück. Auf dem steht „Willkommen in Bockenheim, Familie Alhameadi". Ihre Gastgeberin Anette Mönich und ihre Mitbewohnerin Samantha hielten es ihnen am Bahnhof entgegen.
Inzwischen hat die Famile ihren Zuweisungsbescheid für Frankfurt erhalten, sie dürfen hier permanent als Flüchtlinge leben, haben eine kleine Wohnung zugewiesen bekommen. Obay hat über die Kontakte der Helfer der Familie bereits einen Platz in einer Intensivklasse der Michael-Ende-Schule, die Mädchen eine Kindergruppe, wo sie jeden tag zum Spielen und Deutschlernen hingehen. Die Vorfreude der deutschen Kinder auf Weihnachten hat sie bereits angesteckt. Auch ihr Besuch beim Laternenumzug hat es ihnen angetan. Das Lied „Laterne, Laterne" können sie auswendig, obwohl sie erst seit wenigen Wochen Deutsch lernen. Auch ihre Eltern wollen bei der nächsten Gelegenheit ihren Deutschkurs an der VHS beginnen und dann auf Jobsuche gehen, um für ihr Auskommen selbst zu sorgen.
„Ich schäme mich für die Menschen, die den Islam für Gewalt missbrauchen"
Wo auf der einen Seite Hoffnung herrscht, ist die Sorge um die Situation in der Heimat jedoch nicht weit: „In Syrien wird es immer schlimmer und schlimmer. Freunde und Verwandte von uns sind von den Terroristen getötet worden. Bei jedem Anruf erwartet man schlechte Neuigkeiten", erzählt Loay Alhameadi. Auch die Bilder auf den Fernsehbildschirmen und die Kisok-Schlagzeilen mit schrecklichen Bildern und Überschriften, die sie nicht lesen können, machen den Eltern zu Schaffen. Gerade jetzt, da Terrorakte auch in Europa angekommen sind und Flüchtlingen wie ihnen zunehmend Misstrauen entgegen schwappt. „Ich kann es verstehen", sagt Alhameadi, den der Gedanke an den Terror in Paris umtreibt. „Ich schäme mich fast, auf die Straße zu gehen, bei alldem was die Terroristen unter dem Deckmantel des Islams der Menschheit antun." Loay selbst ist gläubiger Muslim und gerade deshalb verurteilt er den Terror aufs Schärfste: „Das widerspricht allem, was wir jemals im Koran gelesen haben!"
Gerade deshalb ist es ihm und seiner Frau wichtig, dass die Kinder nun weltoffen aufwachsen und in Deutschland andere Kulturen kennenlernen. Auch Loay und Manal haben Freundschaften geschlossen. Die meisten Namen in der Kontaktliste des Handys, das sie gebraucht von Freunden erhalten haben sind deutsche. Manal geht jeden Mittwoch mit den Kindern in die Kirche zu einem Gesprächskreis mit Kaffee und Kuchen. Hier lernt sie Frauen aus anderen Flüchtlingsfamilien kennen und Deutsche, die sich um die Integration der neuen Nachbarn bemühen. „Warum sollten wir diese großartigen Gesten nicht annehmen?"
Auch Weihnachten werden sie in Frankfurt feiern, wie es sich gehört, mit Weihnachtsmarkt und allem drum und dran. „Nach allem was wir wissen, ist Weihnachten eine Familienfeier und für die Menschen hier sehr wichtig". Eine neue Familie haben Alhameadis in ihren Freunden und Helfern in Deutschland gefunden, einen Grund zum Feiern gibt es ebenfalls: Dass sie und ihre drei Kinder nach der gefährlichen Flucht noch am Leben sind und einen Ort gefunden haben, wo sie sich endlich zu Hause fühlen.
Erschienen in: Frizz Magazin Frankfurt