Sabine Schlimm

Redakteurin, Texterin, Autorin, Hamburg

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New Baltic Cuisine - Messerspitzen

Betroffen schaut die blonde finnische Touristin auf ihren Teller, dann wirft sie ihrer Freundin einen hilflosen Blick zu. Leber. Da liegt Leber. Aber sie hätte doch nie ... Eine leise Diskussion auf Finnisch, dann versuchen die beiden, dem Kellner auf Englisch klarzumachen, dass hier ein Irrtum passiert sein muss. „Beef, I wanted the beef!" Der junge Este nickt: „Yes, you ordered the grilled beef liver."

Tatsächlich steht auf der Karte des in Tallinn in dieser Woche nur ein einziges Rindfleischgericht, eben jene gegrillte Leber. Doch als der Kellner bemerkt, dass der finnische Gast diese Leber irrtümlich geordert hat, nimmt er den Teller professionell zuvorkommend wieder mit und serviert ihr kurz darauf etwas anderes. Endlich auch an diesem Tisch: genüssliche Zufriedenheit.

So was passiert. Denn während man in vielen modernen estnischen Restaurants mit „internationaler Küche" beinahe blind bestellen kann - bei den üblichen Verdächtigen von Rindersteak über Lachs bis zu Pasta mit Kirschtomaten kann kaum etwas schieflaufen -, stehen im Leib Rinderleber, marinierter Ostseehering und lauwarmer Buchweizensalat auf der Karte. Die Idee dahinter: eine moderne estnische Küche zu servieren. Best of regional, sozusagen. Und dazu gehören selbstverständlich Innereien.

Natürlich kennt Janno Lepik, der junge Chefkoch, seinen Fergus Henderson. „Ja, die Nose-to-Tail-Bewegung spielt hier auch eine Rolle. Aber es gibt ein estnisches Sprichwort: ‚Alles Neue ist etwas Altes, das man vergessen hatte.'"

Das fast vergessene Alte

300 Kilometer weiter südlich: eine weitere alte Hansestadt, ein anderes Restaurant. Das 3 Pavāru Restorāns im lettischen Riga hat sich ebenfalls einer modernen Regionalküche verschrieben. Und auch hier stehen Innereien auf der Karte: Sous-Vide gegartes Rinderherz und Rinderzunge, serviert mit Staudenselleriepüree, schwarz karamellisierter Zwiebel und Ziegenkäse-Blätterteig-Gebäck.

Das 3 Pavāru (wörtlich „3 Chefköche") ist ein Gemeinschaftsprojekt von drei jungen, experimentierfreudigen lettischen Köchen. Der bekannteste von ihnen, Mārtiņš Sirmais, zeigte seinen Landsleuten sieben Jahre lang in seiner eigenen Fernsehkochshow, wie man zu Hause einfach und gut kocht. Heute reist er für eine weitere Fernsehsendung durch die Welt und gräbt die Geschichten und kulinarischen Traditionen zu internationalen Lieblingsgerichten von Sushi bis Burger aus.

Gibt es in Lettland einen Innereien-Trend, Herr Sirmais? „Keinen Trend, sondern hundert Prozent Tradition. Früher wurde ganz selbstverständlich das gesamte Tier verwertet, und die Rezepte sind Bestandteil der lettischen Küche. Allerdings gab es eine ganze Zeit nach 1991, als die Sowjetunion zerbrochen und Lettland unabhängig geworden war, als alle nur noch Filet kauften: Rinderfilet, Hähnchenbrustfilet, Lachsfilet. Weil man es nun bekam, und weil es so schön einfach war. Aber nach einer Weile wurde den Leuten klar, dass sie eigentlich gerne an Knochen knabbern und dass ihnen Innereien schmecken. Jetzt essen sie sie wieder."

Kulinarische Rückbesinnung

Verschüttete kulinarische Traditionen ausgraben, behutsam den Staub abpusten und sie mit den Methoden des 21. Jahrhunderts auf Hochglanz polieren: Diesem Projekt widmet sich eine junge Generation von Köchen in den baltischen Staaten mit Hingabe. Gleichzeitig erkunden sie die kreativen Möglichkeiten, die sich ihnen mit den regionalen und saisonalen Produkten ihrer Heimatländer bieten. Was dabei herauskommt, kann sich sehen und schmecken lassen. „Wir brauchen den Vergleich mit Paris nicht mehr zu scheuen", erklärt Sirmais selbstbewusst.

Das sah einmal ganz anders aus. Der Zerfall der Sowjetunion hinterließ in den baltischen Staaten ein kulinarisches Vakuum, das schnell durch die zweifelhaften Segnungen des Kapitalismus gefüllt wurde. „Kulinarisch war das hier in den 1990ern ein Disneyland", erinnert sich Sirmais. „Überall Burger, Pizza, Schokoriegel und Softdrinks in allen Regenbogenfarben."

Aber das neue System brachte auch neue Möglichkeiten: Baltische Köche fingen an zu reisen, kochten sich quer durch Europa und lernten dabei neue Produkte, neue Rezepte, neue Zubereitungsmethoden kennen. Gleichzeitig wuchs bei einigen das Bedürfnis, sich mit dem neuen Wissen auf die Suche nach den eigenen kulinarischen Wurzeln zu machen und herauszufinden, wie eine moderne baltische Küche aussehen kann. In den vergangenen Jahren sind viele von ihnen zurückgekehrt und haben in Riga, in Tallinn und anderen Städten Lettlands und Estlands Restaurants eröffnet. Sie haben Produzenten ausfindig gemacht, die ihnen Lebensmittel in höchster Qualität liefern können, sie erkunden die kreativen Möglichkeiten der regionalen Produkte und tauschen sich dabei intensiv aus.

Ein bisschen wie Skandinavien, ein bisschen wie Russland

Paradoxerweise verlieh die Wirtschaftskrise 2008 dieser Entwicklung sogar Schwung: Restaurants werden seitdem eher Köchen eröffnet als von Investoren. „Jetzt steht der Geschmack im Mittelpunkt, nicht mehr das Design der Inneneinrichtung", erklärt Sirmais. Er selbst gehört einer lettischen Köchevereinigung an, die 2009 ein „Manifest der modernen lettischen Küche" formulierte. Dessen Ziele lauten unter anderem:

mit Produkten zu kochen, die frisch, qualitativ hochwertig und typisch für die Region sind; in Gerichten einheimische kulinarische Traditionen mit moderner Küchenwissenschaft zu verbinden, eng mit lokalen Landwirten und Produzenten zusammenzuarbeiten, um die Qualität und Vielfalt lettischer Produkte zu fördern [...].

Der Stolz auf die einheimischen Produkte ist unübersehbar, wenn man durch die baltischen Staaten reist. Zu Recht. Es gibt Fisch aus der Ostsee und den vielen Seen, eine Fülle an Beeren und Pilzen aus den Wäldern, Wild und Weiderind. Der Duft von Wacholder ist präsent, die duftige Note der Quitten und die säuerliche der unterschiedlichen Sauerrahm- und Kefirprodukte. Nicht nur beim Lebensmittelangebot zeigt sich, dass das Baltikum zwischen Russland und Skandinavien liegt, sondern auch an den traditionellen Zubereitungsarten: Räuchern und Fermentieren dienten früher der Haltbarmachung der Produkte für den langen Winter; heute besinnt man sich wegen des Geschmacks wieder darauf.

Das Interesse an regionalen Produkten und Zubereitungsarten beschränkt sich übrigens nicht auf ein paar Köche. „Regionale Lebensmittel haben bei den Esten einen hohen Stellenwert", bestätigt Janno Lepik. Seit einigen Jahren schließen sich vermehrt Bauern mit Verbrauchern zusammen, um neue Wege der Direktvermarktung zu gehen: Übers Internet können die Waren, vor allem Bio-Lebensmittel, bestellt werden, und geliefert werden sie an die Haustür oder zu bestimmten Treffpunkten. Kleine estnische Lebensmittelmanufakturen von der Senfmühle über den Elchwursthersteller bis zur Craft-Beer-Brauerei vertreiben ihre Produkte keineswegs nur an Touristen. Und sowohl Janno Lepik vom Leib als auch Mārtiņš Sirmais vom 3 Pavaru betonen, dass sie in ihren Restaurants in erster Linie für ein estnisches beziehungsweise lettisches Publikum kochen.

New Baltic - aber bitte ohne Dogma

Der Teller mit zweierlei Räucherstör im 3 Pavāru steht exemplarisch für die neue baltische Regionalküche, die in den letzten Jahren entstanden ist: Den angenehm festen kalt geräucherten Stör mit intensiv würziger Rauchnote hatte der Lieferant kurz zuvor persönlich im Restaurant abgeliefert. Der warm geräucherte Stör schmeckt im Kontrast milder, weicher. Brösel von würzigem Roggenbrot liefern eine malzige Note, Rettichscheiben und Queller knackige Frische, und Aioli und ein Sous-Vide gegartes Wachtelei sorgen für eine cremige Basis. Mit dem Rote-Bete-Kaviar verneigt sich die Komposition vor der Molekularküche.

Den Impuls, die Möglichkeiten regionaler Produkte zu erkunden, verdankt sich natürlich auch den Einflüssen der New Nordic Cuisine im Stil von René Redzepi oder Magnus Nilsson. Aber vielleicht haben die langen Jahre des Mangels in sowjetischer Zeit ihre Spuren hinterlassen: Freiwillige Beschränkung auf pure Regionalität oder Unterwerfung unter ein Dogma ist die Sache der neuen baltischen Köche nicht. „Wir sind Köche, nicht PR-Menschen - uns geht es um Geschmack, nicht um Konzepte", erklärt Sirmais.

Im 3 Pavāru stehen daher auch eine Fischsuppe mit Chorizo und ein Quinoa-Gericht auf der Karte, im Leib reicht man zur gegrillten Wachtel südamerikanisches Chimichurri. Und im Grunde ist auch das wieder konsequent, denn im Baltikum haben sich immer schon Einflüsse aus allen Himmelsrichtungen gemischt. Um bei aller Liebe zur Regionalität nicht in Provinzialität zu verfallen, reisen die baltischen Köche immer noch regelmäßig ins Ausland. Aber inzwischen hat auch eine gegenläufige Reisetätigkeit eingesetzt: Nun kommen Köche aus Polen, Russland und der Ukraine ins Baltikum, um dort moderne Küche kennenzulernen.


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