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Reise durch Berliner Unterwelten

Foto: Stephanie Kulbach/Sommerhaus Filmproduktion GmbH

Insgesamt dreimal wurde Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" verfilmt. Wort und Bild verbindet dabei vor allem eins: ein Perspektivenwechsel.


Berlin Alexanderplatz von Alfred Döblin zählt zu einem der wohl bedeutendsten Großstadtromane der Weltliteratur. Der Roman ist dabei nicht nur eine Geschichte, sondern beschreibt in einer fragmentarischen Erzählweise die Atmosphäre einer rasenden Stadt. In den vergangenen fünfzig Jahren wurde der Roman zweimal verfilmt. Einmal in einer 14-teiligen Miniserie von Rainer Werner Fassbinder (1980) und als Spielfilm von dem Regisseur Burhan Qurbani (2020). Doch was haben der Roman und seine Verfilmungen gemeinsam? Es sind Geschichten von Menschen, die am Rand unserer Gesellschaft leben. In Berlin Alexanderplatz werden sie zu (Anti-)Helden. All das passiert in einer Stadt, die neben Handlungsraum auch einen Zufluchtsort bietet.


Döblins Roman

Der Inhalt des Romans: Der ehemalige Transportarbeiter Franz Biberkopf wird aus der Gefängnisanstalt Berlin Tegel entlassen. Der Grund seiner Verhaftung: Er hat seine Ehefrau Ida totgeschlagen. In seiner neuen Freiheit schwört Biberkopf, anständig zu sein. Doch so ganz geht das nicht auf. Sein alter Freund Reinhold verwickelt ihn immer mehr in kriminelle Machenschaften, stiftet ihn zu einem Raub an, bei dem Franz seinen Arm verliert. In einer kindlichen Naivität schenkt Franz Biberkopf Reinhold falsches Vertrauen und verliert so am Ende sogar seine große Liebe Mieze. Dabei ist Franz Biberkopf der (Anti)-Held der Geschichte, dem man als Leser:in hilflos gegenübersteht, weil man nicht weiß, ob man ihn hassen oder lieben soll.


Doch der Protagonist ist in dem Roman Berlin Alexanderplatz nur ein Teil des großen Ganzen. Es sind Fragmente der Stadt, die in dem Buch zu einem riesigen Puzzle zusammenkommen. So verwendet Alfred Döblin Gebrauchstexte, Zeitungsmeldungen, Wetterberichte, Fahrpläne, Verkehrsschilder, Statistiken und Werbeplakate, die sich durch das ganze Buch durchziehen. In einer Szene spricht Franz Biberkopf bei seiner Arbeit als Zeitungsverkäufer mit einem alten Mann. Dieser sagt zu Franz: "'Was hilfts, in der Fabrik nehmen sie einen auch nich mehr. Und voriges Jahr haben sie mir noch operiert, in Lichtenberg, Hubertuskrankenhaus. Ein Ei ist weg, soll tuberkulös gewesen sein, ich sage dir, ich hab noch Schmerzen.' - 'Nah, sieh dir man vor, nachher kommt das andere auch noch ran. Da ist besser sitzen, da wirste besser Droschkenkutscher.' Der mitteldeutsche Kampf geht weiter, die Verhandlungen ergebnislos, Attentat auf das Mieterschutzgesetz, aufgewacht, Mieter, man nimmt dir das Dach über Kopf weg."


Szenen wie diese geben Einblick in ein Berlin, in dem die Arbeitslosigkeit in den 1920er Jahren etwa dreißig Prozent der Bevölkerung betraf. Wohnungsnot, Kleinkriminalität, Krankheiten, all das war allgegenwärtig. Alfred Döblin, der selbst als Nervenarzt im Osten Berlins arbeitete, hatte Einblick in diese sozialen Abgründe, was sich in den Dialogen und den reportagehaften Eindrücken widerspiegelt. Alfred Döblin sagte über seinen Roman: "Hier sah ich nun einen interessanten und noch nicht ausgeschriebenen Schlag von Menschen. Ich habe diesen Menschenschlag zu den verschiedensten Zeiten und in den verschiedensten Lagen beobachten können, und zwar in der Weise, die die einzig wahre ist, nämlich in dem man mitlebt, mithandelt, mitleidet."


Berlin Alexanderplatz steht dabei exemplarisch für eine radikale, moderne Literatur, die sich von der Klassik abwendete. Einer Literatur, die nicht das Bildungsbürgertum abbildete, sondern auch Menschen aus der Arbeiterklasse. Diese futuristische Bewegung war auch eine Absage an eine elitäre Literatur. Doch es war nicht nur eine inhaltliche Absage, sondern auch eine sprachliche. Sie strebte eine Befreiung der Worte an, der Satzbau sollte zerstört werden, unnötige Adjektive, Adverbien ausgelassen werden. So sollte die beschleunigte Welt in der Großstadt an Tempo gewinnen und authentisch erzählt werden. Dabei entsteht eine reportagenhaftes Bild der Stadt, heute als "Kinostil" definiert. Der Roman wird durch knappe, montierte Momentaufnahmen zum Film:


"Vom Süden kommt die Rosenthaler Straße auf den Platz. Drüben gibt Aschinger den Leuten zu essen und Bier zu trinken, Konzert und Großbäckerei. [...] Damenstrümpfe, echt Kunstseide, [...] In der Elsässer Straße haben sie den ganzen Fahrweg eingezäunt bis auf eine kleine Rinne. Hinter dem Bauzaun pufft eine Lokomobile."


Fassbinders vierzehnstündige Serienverfilmung (1980)

Diese Atmosphäre der Stadt wie die undurchdringliche Figur des Franz Biberkopfs war auch das, was Rainer Werner Fassbinder 1980 zu seiner Verfilmung des Romans antrieb. Für Fassbinder, der zu jenem Zeitpunkt bereits 34 Filme gedreht hatte, war es die Erfüllung eines Jugendtraums. So entstand die vierzehnstündige Serie. Von manch Kritiker:innen als "unsendbar" und "unzeigbar" verurteilt, gilt sie heute als Meisterwerk, als Hommage an einen experimentellen Film, der sich von klassischen, filmischen Erzählformen abhebt.

Fassbinder versucht in der Serie, das Fragmenthafte und Atmosphärische auf eine Bildebene zu übertragen. So ist sein Bild von einer ständigen Dunkelheit geprägt, Szenen werden unnatürlich in die Länge gezogen, um der Gedankenwelt von Franz Biberkopf Raum zu geben. Fassbinder versucht, die literarische Dimension, die Alltagseindrücke und Gedankengänge Biberkopfs mit einer Erzählstimme zu untermalen oder lässt seine Protagonist:innen die Einschübe in Döblins Roman sprechen.

So gibt es eine Szene in der zweiten Episode der Serie, in der wir Franz Biberkopf mit Lina in einem dunklen Zimmer sehen. Biberkopf sitzt am Schreibtisch, während es draußen gewittert. Franz fängt an, seiner Geliebten Lina eine Geschichte zu erzählen: "Ich habe da eine ganz komische Geschichte gelesen. Da geht ein Glatzköpfiger abends spazieren und sieht einen Hübschen im Tiergarten. Und da hat der Glatzköpfige den Wunsch, ganz lieb zu sein zu dem Jungen." Wir sehen Linas erschrockenes Gesicht in einer Nahaufnahme. Franz Biberkopf erzählt weiter davon, wie die Familie des Mannes über seine Affäre erfährt, er vor Gericht landet und letzten Endes freigesprochen wird. Am Ende der Szene tritt Lina an Franz heran, betrachtet die Zeitungen und fragt Franz: "Ist das mit dir vielleicht auch so etwas in der Art? Das hier in dem Heft steht?" - "Wat?", fragt Franz. Lina rennt schockiert aus dem Raum.


Die Szene ist bezeichnend für die Art und Weise, wie Fassbinder den Roman filmisch umsetzt. Im Buch wird die Geschichte des Glatzkopfes willkürlich eingeschoben. Franz Biberkopf gerät über Zufälle an schwule Zeitungen, die er in einer Kneipe Lina zeigt. Sie ist schockiert, fragt Franz fassungslos, ob auch er schwul ist und verlässt die Kneipe. Die Geschichte über den Glatzkopf kommt aber erst danach. Durch das Verweben des Montagetexts mit der szenischen Handlung setzt Fassinder hier die willkürlich angeordneten Texte Döblins in Bezug zu den Figuren Franz, Lina und Reinhold. So wird die Frage nach der Beziehung zwischen Reinhold und Franz aufgeworfen. Das Thematisieren von Homosexualität kommt immer wieder in der Serie vor und man fragt sich als Zuschauer:in: Ist das vielleicht der Grund, warum Franz Biberkopf trotz der Grausamkeit, mit der Reinhold ihm begegnet, ihm immer weiter vertraut? Oder steht die Beziehung zwischen Reinhold und Franz metaphorisch für ein narzisstisches Liebesverhältnis, dem man nicht entkommen kann? Fassbinder meinte wohl eher Letzteres, wie er einem Interview 1980 formuliert: "Dabei gibt es beileibe nichts Sexuelles zwischen Personen des gleichen Geschlechtes, Franz Biberkopf und Reinhold sind keineswegs homosexuell. (...) Nein, das, was zwischen Franz und Reinhold ist, das ist nicht mehr und nicht weniger als eine reine, von nichts Gesellschaftlichem gefährdete Liebe."


Berlin in Rot und Pink bei Burhan Qurbani

Fassbinders Berlin ist in seiner Verfilmung beklemmend, sogar bei Tageslicht ist alles von einem dunklen Schleier überschattet. Ganz anders ist die Inszenierung von Burhan Qurbani, die im Februar 2020 ihre Premiere auf der Berlinale feierte. Das Berlin der Gegenwart schwankt zwischen in rot und pink getauchten Bildern von Berliner Nachtclubs und realitätsnahen Aufnahmen in Berliner Parks und Altbauwohnungen. Anders als Fassbinder, holt Qurbani Berlin Alexanderplatz radikal in die Gegenwart. Franz Biberkopf wird zu einem Geflüchteten aus Bissau namens Francis, der seine Freundin auf dem Weg nach Deutschland verliert und sich deshalb schwört, anständig zu sein. Reinhold ist in der Gegenwart ein Drogendealer, der Francis immer stärker in Drogengeschäfte verwickelt und wie im Roman zu einem Raub anstiftet.


Doch während in dem Original Franz Biberkopf einen Antihelden darstellt, den man immer aus einer gewissen erzählerischen Distanz betrachtet, wird Francis (oder später von Reinhold benannt als "Franz") in Qurbanis Version zu einem tragischen Helden. Die Grausamkeit, die Francis in Berlin begegnet, geht einem dabei unglaublich nah. Zwar verliert die Figur Franz Biberkopf in dem Film ihre Ambivalenz, da Franz Biberkopf zum reinen Helden wird, doch es entsteht ein faszinierendes, gesellschaftskritisches Drama, das die Geschichte Biberkopfs in die Gegenwart rückt. Denn wie der Arbeiter Franz Biberkopf ist Francis ein Ausgestoßener, am Rande der Gesellschaft Lebender, der immer wieder von Schicksalsschlägen heimgesucht wird.


Dabei politisiert Qurbani Berlin Alexanderplatz. Die Adaption eines Werks, das zum bildungsbürgerlichen Kanon gehört, war dabei Mittel zum Zweck, so beschrieb es der Regisseur in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur Ende Juli 2020: "Es geht in dem Film stark um die Community von Dealern im Park Hasenheide in Berlin. Es geht viel darum, wie ich sie immer wahrgenommen habe, dass ich gemerkt habe, dass da am Rande der Gesellschaft eine Community von Männern mit Drogen dealt und von den gutbürgerlichen Besuchern des Parks immer als Dealer stigmatisiert, als Kriminelle angeschaut wird. Mich hat wütend gemacht, dass die keine Stimme, kein Gesicht, keine Repräsentation haben, die irgendwie fair ist."


Und wie Fassbinders Werk ist auch Qurbanis Film geprägt von einer Faszination der Beziehung zwischen Franz Biberkopf und Reinhold, wobei Qurbani die Abhängigkeit neu interpretiert. So hofft Franz durch Reinhold an einen deutschen Pass zu kommen. Doch was haben das Original und seine filmischen Inszenierungen gemein? Es scheint, als verbinde sie alle ein naturalistischer Blick auf die Welt. Die Überzeugung, dass Geschichten aus realen Situationen und Milieus erzählt werden sollten. Sei es der Arbeiter und Ex-Sträfling Franz Biberkopf in Ost-Berlin, die ambivalente Beziehung zwischen Franz, Reinhold und Mieze, die bei Fassbinder thematisiert wird, oder das Schicksal des Geflüchteten Francis. Der Roman sowie seine Neuinterpretationen bieten eine realitätsnahe Perspektive auf das Leben in einer Großstadt. Berlin ist dabei Handlungsraum, aber auch Zufluchtsort für jene, die auf ein besseres Leben hoffen. Während diese Art des Erzählen im Roman mit einer Authentizität der Sprache funktioniert, ist es im Film die Authentizität der Figuren. Denn ob Antiheld oder Held, Franz Biberkopf bietet eine zeitlose Projektionsfläche. Oder wie es Alfred Döblin in seinem Vorwort zu Berlin Alexanderplatz formuliert: "Dies zu betrachten und zu hören, wird sich für viele lohnen, die wie Franz Biberkopf in einer Menschenhaut wohnen und denen es passiert, wie diesem Franz Biberkopf, nämlich vom Leben mehr zu verlangen als das Butterbrot."

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