- NZZ Folio/ Dezember 2012/ Reportage/ Von Ruth Kinet/
- Rami mag es nicht, wenn Nurit aus dem Haus geht. Am liebsten hat er es, wenn sie die ganze Zeit zusammen sind. Gemeinsam in ihrer Zweizimmerwohnung, in Sicherheit. Rami hat Angst vor der Zukunft, Angst vor dem Gefängnis und Angst davor, dass Nurit ohne ihn nicht zurechtkommen würde. «Für mich ist sie nicht normal, diese Frau», sagt Rami und meint es liebevoll. Er kann es noch immer kaum glauben: «Sie will nicht ohne mich leben.» Eine Erkenntnis, die ihm Sorgen macht, aber die ihn auch aufrecht hält.
Rami
Rami ist 51. Auf den ersten Blick wirkt er zehn Jahre älter. Das machen die Zahnruinen in seinem Mund, vielleicht ist es auch das graue Haar. Aber sobald er anfängt zu sprechen, geht etwas Frisches von Rami aus. Er trägt Flip-Flops, ein gelbes T-Shirt und weisse, knielange Hosen. Er wurde 1961 in Tulkarem im Westjordanland geboren, 50 Kilometer nordöstlich von Tel Aviv. Er muss lange nachdenken, bis er seinen Platz in der Familie berechnet hat: Er ist der siebte von elf. Ja, so ist es wohl. Vier Jungen und sieben Mädchen waren sie zu Hause.
Sein Vater war Bauer und bewirtschaftete ein Stückchen Land. Er baute Gemüse an und verkaufte es auf dem Markt: Gurken, Süsskartoffeln, Tomaten, Zucchetti und Auberginen. Die Familie lebte in einem kleinen Haus, sie hatten kaum Kleidung und Schuhe und waren oft hungrig. Aber es war eine gottesfürchtige Familie. Sieben Mal pilgerte der Vater nach Mekka. Er war streng. Seine Kinder sollten nicht mit den anderen Kindern spielen, sondern Bücher lesen. Gute Erinnerungen aus seiner Kindheit hat Rami nicht. Obwohl, doch, da war etwas: Die Stille in den nahe gelegenen Bergen, die war schön.
Rami wäre gern Pilot geworden. «Zivilpilot», betont er, der noch nie in einem Flugzeug gesessen hat und die schweren Vögel vor allem als ohrenbetäubende Präzisionsinstrumente der israelischen Luftwaffe kennt. Ende der 1970er Jahre wollte ihn einer seiner Brüder bei der PLO unterbringen. «Es ist nichts daraus geworden», sagt Rami. Stattdessen ging er zur israelischen Polizei. Er holt das Dokument hervor, das die Aushändigung seiner Dienstwaffe bescheinigt. Rami sagt, er wollte eine andere Kultur kennenlernen und andere Werte. Er wollte erleben, was Demokratie ist. Für viele seiner palästinensischen Freunde, die sich in den 1980er Jahren politisch engagierten und die israelische Besatzung abschütteln wollten, war Rami ein Verräter. Er heiratete eine Frau, die seiner Familie nicht gefiel, und bekam mit ihr sieben Töchter. Als 1987 der erste palästinensische Aufstand gegen Israel begann, legte Rami die Uniform ab und gab seine Waffe zurück. «Ich schiesse nicht auf meine eigenen Leute», entschied er und suchte sich einen Job auf dem Bau. «Es ging uns nicht schlecht», sagt er. Trotzdem liess sich seine erste Frau nach zwölf Jahren Ehe von Rami scheiden, auf Wunsch ihres Vaters. Rami ging nach Haifa. Das war 1993. Er fand Arbeit bei einer israelischen Baufirma und fing ein neues Leben an.
Seinen Aufenthaltsstatus als Palästinenser aus dem Westjordanland in Israel habe er zu klären «vergessen», sagt er. Vielleicht hätte er damals noch eine Chance gehabt, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Seit Beginn der zweiten Intifada im Herbst 2000 gelten Palästinenser aus dem Westjordanland und aus Gaza in Israel als Feinde. Zurück nach Tulkarem konnte Rami auch nicht, dort galt er als Kollaborateur. In Haifa lebt er illegal – so wie etwa 40 000 palästinensische Arbeiter.
Eines Tages besuchte Rami eine befreundete arabische Familie. Dort war gerade eine jüdische Israelin zu Gast. Sie hiess Nurit und sprach gut Arabisch. Rami erfuhr, dass Nurit regelmässig bei seinen Freunden übernachtete. Er war empört, wie herablassend seine Freunde Nurit behandelten. Rami lotste Nurit vor die Wohnungstür und fragte: «Brauchst du Hilfe?» Sie sahen sich öfter, und zwei, drei Wochen später küsste er sie zum ersten Mal. Rami hatte sich in Nurit verliebt, aber er wollte keinen Fehler machen. «Ich habe sie geprüft», sagt er. «Ich wollte wissen, wie ihr Kopf funktioniert.» Er merkte, dass sie vieles gemeinsam hatten. Dass sie anderen gerne half, so wie er selbst. Dass sie ein ruhiger Mensch war, nicht viel redete und am liebsten zu Hause war. Er zog zu ihr. Zwei Jahre lebten sie zusammen, vor fünf Jahren heirateten sie.
Die Eheschliessung war eine nüchterne Angelegenheit. Rami und Nurit unterschrieben beim Anwalt einen Vertrag. Sie liessen keine Korken knallen. Trotzdem war es ihnen wichtig, ihrer Beziehung eine Form zu geben. Und beide hofften, die Ehe würde Ramis Aufenthaltsstatus verbessern. Doch der blieb unverändert; seit der zweiten Intifada können Palästinenser aus dem Westjordanland und aus Gaza, die israelische Staatsbürgerinnen heiraten, weder die israelische Staatsbürgerschaft noch eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in Israel erhalten. Immerhin weist die israelische Polizei Rami nicht ins Westjordanland aus, wenn sie ihn ohne Papiere aufgreift, sondern bringt ihn ins Gefängnis oder erteilt ihm Hausarrest. Zuletzt passierte ihm das im Mai 2012. Bis November dieses Jahres durfte Rami weder das Haus verlassen noch arbeiten. Zu Hause eingesperrt zu sein quält ihn. Er kann sich keine Zeitschrift kaufen, nicht zum Supermarkt gehen und auch nicht zum Gebet in die Moschee.
Nurit
«2006 hat Rami mich gerettet», sagt Nurit. «Seitdem weiss ich, dass es einen Menschen auf der Welt gibt, dem ich vertrauen kann.» Sie kannten sich damals erst wenige Monate, als Rami sie eines Tages aus seiner Heimatstadt Tulkarem anrief und sagte, er komme nicht wieder heraus aus dem Westjordanland. Die Grenze sei zu. «Ausreden», dachte Nurit und schluckte Schlaftabletten. Aber Rami versuchte immer wieder bei ihr anzurufen. Als sie nicht ans Telefon ging, wusste er, dass etwas nicht stimmte, und bestellte von Tulkarem aus einen Notarzt zu Nurits Wohnung in Haifa. So hielt Rami Nurit im Leben.
Nurit ist 48 Jahre alt. Sie ist klein, hat lange, dunkle Haare und Augen, deren Schwärze sie mit viel Kajal und Wimperntusche noch hervorhebt. Nurit wirkt drahtig, stählern. Wenn sie mit ihrer zigarettentiefen Stimme spricht, dann bewegen sich nur ihre Lippen, ihre Augen gehen nicht mit. Sie hat schwarzweiss getigerte Leggins an, darüber ein enganliegendes schwarzes Shirt mit Glitzerschrift und tiefem Ausschnitt. Nurit ist in Beit Dagan aufgewachsen, einem Dorf zehn Kilometer südöstlich von Tel Aviv und sechzig Kilometer südlich von Tulkarem, wo Rami lebte. Ihre Grosseltern sind aus Marokko nach Israel eingewandert. Zu Hause wurde Hebräisch gesprochen, aber sie hörte auch viel Arabisch. Vor allem von den Erntehelfern aus Gaza, sagt sie. Sie war das älteste von acht Kindern. Sechs Schwestern hatte sie und einen Bruder. Ihre Familie war fromm, pflegte die Traditionen und feierte die Feste.
Nurit und Rami sprechen Arabisch miteinander. Zu den anderen Bewohnern in ihrem Haus haben sie wenig Kontakt. Ab und zu kommt ein Orthodoxer aus dem vierten Stock und klopft an ihre Tür, um sie auszuhorchen und Geld zu fordern. Er ist dagegen, dass eine Jüdin mit einem Araber zusammen ist. Allerorts ist der Hass auf arabisch-jüdische Beziehungen spürbar. Die Organisation Lehava, «Organisation zur Prävention der Assimilation im Heiligen Land», ruft die Bevölkerung sogar dazu auf, solche Liebesbeziehungen zu melden. An manchen Orten im Land gibt es freiwillige Patrouillen, die Treffpunkte von Liebespaaren kontrollieren, um Küsse zwischen Jüdinnen und Arabern zu vereiteln.
Nurit wusste als junges Mädchen nicht, was sie werden wollte. Sie kochte gern, das ja. Später wollte sie nur weg von ihrem Vater. Deswegen heiratete sie erst einmal. Am Anfang war ihr Mann nett, dann wurde er zum Trinker und gewalttätig. Zwei Kinder sind aus dieser Verbindung entstanden. Als es zur Trennung kam, ist ihr Sohn bei ihrer Mutter aufgewachsen, ihre Tochter kam in eine Pflegefamilie. Nurit ging nach Haifa und begann als Näherin bei einem israelischen Hersteller für Bademoden zu arbeiten. Freundinnen hat sie nicht. «Ich glaube nicht an Freundschaften», sagt sie, «nicht mehr.»
Diese arabische Familie zum Beispiel, bei der sie damals Rami kennenlernte, hatte sie für Freunde gehalten. Sie hatte sie zufällig kennengelernt – in einer Zeit, als sie Angst hatte, allein in ihrer Wohnung zu schlafen. Abends wurden Matratzen für die sieben Kinder und die Eltern im Wohnzimmer ausgelegt und eine für Nurit. Sie fühlte sich dort geborgen, genauso hatte sie auch in ihrer Kindheit neben ihren Geschwistern geschlafen. Allein in einem Schlafzimmer, allein in einer Wohnung, das war nichts für sie. Nurit bedankte sich für ihren Schlafplatz, indem sie für die Familie einkaufen ging und kleine Botengänge erledigte.
Sie vertraute der Familie, bis sie eines Morgens zur Bank ging und feststellte, dass eine Stunde vorher jemand ihren Lohn abgehoben hatte. Auf der Überwachungskamera war der Vater der Familie zu sehen. «Nicht mal einen Schekel hat er mir gelassen, damit ich mir Zigaretten kaufen konnte», sagt Nurit, und Zigaretten braucht sie so dringend wie die Luft zum Atmen. Sie sagte nichts und ging weiterhin zu diesen Leuten – auch wenn sie nun ihre Tasche nachts unter das Kopfkissen legte. Als Rami zu Besuch kam, um mit dem Familienvater Kaffee zu trinken, spürte er, dass etwas nicht stimmte, und bot ihr seine Hilfe an. «Wenn ich Geld brauchte, sagte er, würde er es mir geben, ich müsste es auch nicht zurückgeben», erinnert sich Nurit. Sie brauchte kein Geld.
Anfangs traute sie ihrem Glück nicht, traute Rami nicht. Aber nach und nach begriff sie, dass es ihm wirklich um sie ging. Nurit wagte sich zurück in ihre eigene Wohnung. «Ich habe mich in ihn verliebt, nach zwei, drei Wochen haben wir uns zum ersten Mal geküsst, und nach ein paar Monaten ist er zu mir gezogen», erzählt sie.
Nurit feiert mit Rami die jüdischen und die muslimischen Feste. «Er ist Muslim. Na und? Das ist doch kein Problem», sagt Nurit. Rami betet jeden Tag zu Hause. Nurit sagt, sie glaube an Gott. In die Synagoge geht sie nicht. Streit gibt es nicht über solche Dinge. Über anderes schon manchmal. «Wie bei jedem Paar», sagt Nurit. Seit Rami in Hausarrest ist, leben sie von Nurits Einkommen aus ihrem Küchenjob im Militärkrankenhaus. 950 Franken sind das. Abends erzählt Nurit Rami von ihrer Arbeit. Und Rami teilt mit Nurit seine Sorgen. Solange Rami da ist, ist alles gut für Nurit. «Er ist stark und kann viel tragen», sagt sie. «Er ist ein guter Mensch.» Für die Zukunft wünscht sie sich, «dass alles so bleibt, wie es ist».
Ruth Kinet ist freie Journalistin; sie lebt in Tel Aviv.